Karin Prien, 60, ist CDU-Politikerin und seit Mai Bundesministerin für Bildung, Familie, Senioren, Frauen und Jugend im Kabinett Merz. Zuvor war sie Bildungsministerin in Schleswig-Holstein.
Larissa Schink, 17, ist Schülerin an einem Gymnasium in Bremen. Kamil Demir, 22, studiert in München und engagiert sich politisch als Mitglied der CSU.
Larissa Schink: Die Situation an meiner Schule ist teils katastrophal: Bei einer Toilette fehlt seit zwei Monaten die Tür. Andere sind abgeschlossen, weil wir ein Vandalismus-Problem haben. Ständig fallen Lehrer aus. Bildung ist der Schlüssel. Aber davon kommt bei uns nicht viel an, Frau Prien. Woran liegt das?
Karin Prien: Vorweg zur Klarstellung: Bildung ist in Deutschland Ländersache, der Schulbau liegt in kommunaler Verantwortung und natürlich ist es für mich unredlich als Bundesministerin, die Situation an Deiner Schule zu bewerten oder gar pauschale Aussagen zu treffen.
Aber ja: Es gibt einen massiven Sanierungsstau in Schulen, weil einzelne Kommunen ihren Auftrag diesbezüglich nicht wahrnehmen. Es muss mehr Geld investiert werden, keine Frage. Gleichzeitig haben wir schlicht ein demografisches Problem: Es gibt zu wenig Lehrkräfte, während durch die Zuwanderung ab 2015 und noch mal 2022 Hunderttausende zusätzliche Schüler gekommen sind. Die Geburtenzahlen sind erst gestiegen und aktuell wieder dramatisch gesunken. Das ist ein OECD-weites Problem.
Schink: Welche Maßnahmen werden ergriffen, um die Situation zu verbessern?
Prien: Es gibt große Handlungspakete zur Lehrkräftegewinnung – von der Berufsorientierung über Maßnahmen für niedrigere Abbruchquoten an den Unis bis zum Quer- und Seiteneinstieg. Dabei bildet man Akademiker aus anderen Berufen zu Lehrern weiter. Außerdem erleichtern wir die Anerkennung ausländischer Schulabschlüsse und stellen Personal ein, das Aufgaben abseits des Unterrichts erledigen kann. Aber die Situation bleibt ein Problem.
Schink: Ich habe das Gefühl, dass sich Lehrer, die anfangs noch sehr engagiert sind, nach ihrer Verbeamtung oft darauf ausruhen. Es fehlen nicht nur Lehrer, auch die Unterrichtsqualität nimmt ab.
Prien: Das lässt sich natürlich nicht pauschalisieren, – aber generell muss sich die Schulaufsicht noch stärker um die Schulqualität kümmern. Eine Debatte über die Verbeamtung kann man durchaus führen. Das Problem ist aber, dass die Arbeitnehmer wegen des Fachkräftemangels aktuell ohnehin in der stärkeren Verhandlungsposition sind, – obwohl wir die mit am besten bezahlten Lehrer der Welt beim Berufseinstieg haben.
Schink: Warum nimmt die Qualität dann ab?
Prien: Über das krisenbehaftete deutsche Bildungssystem zu reden, ist gerade en vogue. Ich teile das in dieser Generalität nicht. Es gibt super Schulen und tolle Lehrer. Die kann man nicht alle über einen Kamm scheren. Das ist eine Führungsfrage, vonseiten der Schulleitung und der -aufsichten, die mehr kontrollieren müssten, wie du es genannt hast.
Kamil Demir: Sie haben es schon angesprochen: Das kostet alles Geld. Ein Pädagogikprofessor, mit dem ich gesprochen habe, meinte, das System sei so marode, dass alle Investitionen verbranntes Geld seien.
Prien: Wenn man nur neues Geld in das System gibt und ansonsten nichts verändert, kann man es in der Tat auch sein lassen. Schulen müssen sich an ihren Erfolgen messen lassen. Wer nicht erfolgreich ist, muss sich dahin gehend beraten lassen. Es funktioniert nicht, wenn alles, was ein Lehrer tut, unter „pädagogische Freiheit“ fällt. Gemeinsam mit den Ländern müssen wir auf allen Ebenen des Schulsystems eine datenbasierte Evaluationskultur etablieren.
Demir: Zu Schulzeiten war mir eine Mischung aus guter Allgemeinbildung und Vorbereitung aufs Leben wichtig. An Zweitem hat es mir aber oft gefehlt, zum Beispiel beim Thema finanzielle Bildung.
Prien: Ich sehe dieses Anliegen – das ja sehr oft geäußert wird – kritisch. Was ist die Aufgabe von Schule? Ist es tatsächlich, vermittelt zu bekommen, wie man eine Steuererklärung macht? Das kann man sich – wenn man in Deutsch und Mathe aufgepasst hat – gut selbst beibringen. In der Schule muss man zum einen eine solide Allgemeinbildung erhalten. Zum anderen muss man lernen zu lernen.
Schink: Nach acht Stunden in der Schule sollen wir uns noch selbst beibringen, wie man eine Steuererklärung macht?
Prien: Daran, ob solche Themen zum Bildungskanon gehören, möchte ich ein großes Fragezeichen machen. Ein bisschen was muss in der Familie stattfinden, und ein wenig muss man sich auch selbst beibringen. Der Schwerpunkt in der Schule liegt auf einer vertieften Allgemeinbildung und der Vermittlung von Grundkompetenzen.
Schink: Was verstehen Sie darunter?
Prien: Das beinhaltet zum Beispiel eine so tiefe Beschäftigung mit Themen, dass man ihre Komplexität und die Schwierigkeit, sich eine Meinung zu bilden, erfassen kann. Oder nehmen wir das Beispiel Gedichtinterpretation. Es heißt oft: „Ich möchte etwas Praktisches lernen. Was soll ich damit?“ Das ist eine Riesenchance, sich im Leben zumindest einmal auf Lyrik einzulassen. Das macht man nicht, wenn man es in der Schule nicht gelernt hat. Das gehört eben auch zu unserem Land und unserer Kultur dazu.
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Demir: Auch der ehemalige Finanzminister Christian Lindner (FDP) hat immer wieder zu mehr Finanzbildung an den Schulen gedrängt und dafür viel Zuspruch erhalten.
Prien: Es ist richtig, dass man in der Schule einen Zugang etwa zum Thema Altersversorgung bekommen muss. Aber ich finde es immer schräg, wenn Politiker, die von Bildungspolitik nicht viel Ahnung haben, gute Tipps geben. Ich hätte für Christian Lindner auch ein paar Tipps gehabt. Von außen lässt sich das immer leicht sagen: „Ihr müsst dieses und jenes neue Fach einführen!“
Schink: Aber Bildung sollte doch nicht vom Elternhaus abhängig sein.
Prien: Richtig, Bildung darf nicht von der Herkunft abhängen. Aber Eltern spielen eine zentrale Rolle und haben die Aufgabe, Bildung und Erziehung ihrer Kinder in erster Verantwortung zu übernehmen. Wo Eltern das nicht können, muss der Staat eintreten.
Schink: Ich habe letztens bei einer Party Leute aus verschiedenen Bundesländern getroffen. Wir haben darüber gesprochen, wie unterschiedlich unsere Abiture sind. Wie sollen alle die gleichen Chancen haben, wenn das System regional so unterschiedlich ist?
Prien: Das Abitur setzt sich aus vielen Prüfungsbestandteilen zusammen, die sich über mehrere Jahre ansammeln. Wir haben gemeinsame Bildungsstandards, in denen zu erreichende Kompetenzen festgelegt sind. Das heißt nicht, dass die Inhalte zwingend gleich sein müssen. Das Abitur muss vergleichbar sein, und das war es nicht. Das hat auch das Verfassungsgericht gesagt. Aber wir haben in den vergangenen Jahren an einer neuen Oberstufenverordnung gearbeitet, die das gewährleisten soll und die gerade nach und nach in Kraft tritt.
Schink: Wenn meine Schwester in drei Jahren in Bremen das Abitur macht, ist es genauso viel wert wie das Abi in Bayern?
Prien: Die Rahmenbedingungen und Sozialstrukturen sind unterschiedlich: Bayern ist sehr viel größer als Bremen, und Bremen ist das Land mit der schwierigsten sozialen Lage. Es wird immer Unterschiede geben, auch innerhalb eines Bundeslandes. Ganz gleich wird es nie sein. Aber wir haben die Rahmenbedingungen so verändert, dass es eine deutliche Angleichung gibt.
Schink: Wie sieht es bei Medienerziehung aus – soll die durch die Lehrer oder das Elternhaus gewährleistet werden?
Prien: Elternhaus und Schule und Politik tragen hier gemeinsam Verantwortung. Wir haben den Anspruch, unsere Kinder im analogen Raum durch vielfältige Maßnahmen zu schützen. Im Netz machen wir hingegen so gut wie nichts. Aus der Studienlage geht klar hervor, dass Kinder durch zu viel Medienkonsum Schaden nehmen. Es ist aber nicht getan mit Verboten. Man muss einen altersgerechten Zugang ermöglichen, und die Medienerziehung muss besser und ständig aktualisiert werden.
Demir: Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) hat auf Ihren Vorstoß in Richtung Social-Media-Verbot reagiert: Er fände ein Verbot, etwa bis zum 16. Lebensjahr, realitätsfremd, weil das die Jugendlichen nur noch mehr reizen würde. Alkohol und Rauchen sind verboten, und trotzdem wird auf Hauspartys getrunken und geraucht. Ich finde, er hat da einen Punkt.
Prien: Ein richtig gutes Argument ist das nicht. Du würdest auch nicht sagen: „Ein Achtjähriger kann sich eine Flasche Schnaps besorgen – dann trinkt er eben Schnaps.“ Das ist kein Argument, wenn du eine große Zahl Jugendlicher besser schützen kannst.
Wir reden über medizinischen Kinder- und Jugendschutz. Wir reden darüber, wie Schulen agieren sollten. Wir reden über süchtig machende Algorithmen. Wir müssen Eltern, Lehrkräfte, Kinder- und Jugendärzte einbeziehen. Wir brauchen einen interdisziplinären Blick auf all das. Dann können wir uns über eine Strategie verständigen.
Schink: Aktuell wird viel über Rechtsextremismus gesprochen. Meine Schule ist eher das Gegenteil davon: Auf dem Schulklo hängen Antifa-Poster, und unsere Schülervertretung besteht teilweise aus Linken, die sich immer mehr radikalisieren.
Prien: Es findet eine gesellschaftliche Polarisierung statt, links und rechts und auch im Bereich des Islamismus. Schüler sind eher links. Das gibt sich meistens im Laufe des Lebens. Es ist die Aufgabe von Schule, dafür Sorge zu tragen, dass sich Schüler mit anderen Meinungen auf Basis des Grundgesetzes substanziell auseinandersetzen.
Schink: Wie soll das funktionieren, wenn wir in der Schule selten über aktuelle Themen sprechen, sondern über Dinge, die vor 500 Jahren passiert sind?
Prien: Die Bildungspläne sehen selbstverständlich die Befassung mit aktuellen politischen Themen vor. Wenn eine Schule darüber nicht spricht, hat sie ihren Job verfehlt. Gleichzeitig muss man historische Zusammenhänge kennen, um aktuelle Ereignisse richtig einordnen und diskutieren zu können.
Demir: Seit dem 7. Oktober 2023 ist Antisemitismus ein großes Problem. Was macht der Ausbruch antisemitischer Gewalt mit Ihnen als Jüdin?
Prien: Ich finde das schrecklich und beschämend. Ich habe es der „Bild“-Zeitung dieser Tage gesagt: Wir haben sehr viele Palästinenser hier in Deutschland – nicht erst seit 2015 oder seit dem 7. Oktober. Es leben etwa 200.000 Palästinenser in Deutschland, allein 40.000 in Berlin. Nicht alle sind radikal, aber einige schon. Das merken wir auf unseren Straßen.
Schink: Die Leute, die ich kenne, die für Palästina kämpfen, sind aber keine Palästinenser, sondern Linke.
Prien: Es ist dramatisch, was sich in der linken Szene zum Teil abspielt. Wir leben in einem Land, in dem Meinungsfreiheit herrscht. Da, wo gegen Strafrecht verstoßen wird, muss – auch im schulischen Kontext – durchgegriffen werden. Das, was in Gaza passiert, ist nicht gut und nicht hinnehmbar auf Dauer. Das möchte ich betonen – auch als Freundin Israels. Aber wir haben eine linke Ideologie, die sich besonders an Israel mit Doppelstandards abarbeitet. Diese Ideologie ist eigentlich antiamerikanisch und -kapitalistisch. Das muss man durchschauen und Schülern erläutern. Auch das erwarte ich von Lehrkräften.
Uma Sostmann ist Volontärin bei WELT. Ihr Stammressort ist die Innenpolitik.
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