Grün bedeutet: Antisemitismus. Der Riesenbildschirm zeigt, wo es in Nordamerika einen antisemitischen Übergriff gegeben hat. Wir befinden uns in einem Hochhaus an der Third Avenue in Manhattan – im Hauptquartier des Center on Extremism, das zur Anti-Defamation League gehört. Die Anti-Defamation League, kurz ADL, ist uralt; sie wurde 1913 von amerikanischen Juden gegründet, nachdem ein jüdischer Manager in Georgia zu Unrecht wegen Mordes an einer Minderjährigen verurteilt worden war. Später wurde er gelyncht.
Im Gegensatz zur ADL ist das Center on Extremism deutlich jünger und existiert erst seit 2006 – und befasst sich nicht nur mit dem Hass auf Juden. Zu den Schwerpunkten des Zentrums gehören Rassismus, Hetze gegen Homosexuelle und Transsexuelle sowie politischer Extremismus quer durch das politische Spektrum. 40 Menschen arbeiten – über die Vereinigten Staaten verteilt – für das Center. Manche von ihnen waren früher für die Polizei oder das FBI tätig, manche kommen aus dem High-Tech-Sektor, manche stammen aus dem Journalismus.
So wie Oren Segal, Vizepräsident der Organisation, der in einem früheren Leben für die „New York Times“ gearbeitet hat. Segal, ein bärtiger Mann im Jackett, wurde von der linken jiddischen Zeitung „Forwerts“ vor ein paar Jahren unter die 50 einflussreichsten amerikanischen Juden gewählt. Er strahlt, so seltsam das klingen mag, gute Laune aus. „Ein guter Tag für uns“, sagt er, „ist ein Tag, an dem wir eine extremistische Gewalttat gestoppt haben.“ Wenn das passiert, werde der Sekt aus dem Kühlschrank geholt und auf den Sieg angestoßen.
Heute aber ist kein Freudentag. Unter dem großen Bildschirm mit den grünen Kreisen sitzen vereinzelt Frauen vor Computerterminals und arbeiten konzentriert vor sich hin. Das Büro bleibt ziemlich leer, am Beginn der Arbeitswoche ist hier nicht viel los; viele Mitarbeiterinnen bleiben zu Hause, dies ist ein Job, den man hervorragend vom heimatlichen Küchentisch aus verrichten kann. Woraus aber besteht dieser Job?
Extremismus im Netz
Die Leute vom Center on Extremism treiben sich in den dunkelsten Ecken des Internets herum. Sie verfolgen Chatgruppen auf Telegram, sie horchen in Podcasts hinein, sie finden heraus, welche realen Personen sich hinter Decknamen verstecken. Darüber hinaus hat das Center on Extremism eigene Formen der künstlichen Intelligenz entwickelt, die bei der Arbeit behilflich sind: „Eine Art ChatGPT für politischen Extremismus“, sagt Segal und grinst. So können Verschwörungserzählungen aufgespürt werden, ohne dass ein Mensch sich stundenlange Podcastfolgen anhören müsste.
Sobald es einen Hinweis auf eine bevorstehende Gewalttat gibt, wird die Polizei verständigt. „Neulich haben wir ein Schulmassaker verhindert“, sagt Oren Segal, der plötzlich sehr ernst wird. „Wir stießen auf Hinweise, dass ein Täter sich auf so etwas vorbereitet. Es hatte gar nichts mit Antisemitismus zu tun.“ Aber natürlich hat das Center on Extremism trotzdem die betroffene Schule gewarnt.
Allerdings ist es Oren Segal und seinem Team nicht gelungen, zwei neue Terrorakte zu verhindern. Am 21. Mai erschoss ein Mann ein junges Paar vor einem jüdischen Museum in Washington; ein paar Tage später warf ein anderer Mann in Boulder, Colorado, zwei Molotowcocktails auf Menschen, die friedlich für die Freilassung der von der Hamas entführten Geiseln demonstrierten. Zum Glück starb in Colorado niemand, aber mehrere der Demonstranten, unter ihnen Überlebende des Holocaust, wurden verletzt.
„Dieses Land hat ein massives Antisemitismusproblem“, sagt Segal. Dabei geht es ihm nicht darum, Kritik an Israel mit Antisemitismus gleichzusetzen. Nehmen wir die beiden jungen Leute in Washington: Sie wurden nicht etwa ermordet, weil sie für die israelische Botschaft arbeiteten, sondern einzig und allein, weil sie Juden waren.
Es wird Zeit für eine politisch inkorrekte Gretchenfrage: Ist die linke oder die rechte Form des Antisemitismus schlimmer? Segal lacht unfroh. Er sagt, er bekomme diese Frage häufig gestellt, und die korrekte Antwort laute: „Ja.“ Beide Formen des Antisemitismus seien schlimmer. Bisher seien die rechten Antisemiten allerdings gewalttätiger gewesen. Tatsächlich kam der tödlichste Angriff auf Juden in der amerikanischen Geschichte von einem Rechtsextremisten. Es war der Überfall auf eine Synagoge in Pittsburgh vor sieben Jahren, bei dem elf Menschen getötet und sechs weitere verletzt wurden. Aktuell verschiebt sich jedoch die Gewaltfrage: Die linken Antisemiten würden immer gewalttätiger.
Insgesamt ist die Zahl der antisemitischen Übergriffe nach dem 7. Oktober 2023 geradezu explodiert, nicht nur in Amerika, sondern weltweit. Der Unterschied zwischen den Vereinigten Staaten und Europa: In Nordamerika leben viele Juden, mehr als sechs Millionen. Betrachtet man die Landkarte mit den grünen Kreisen genauer, dann fällt auf, dass sich die Angriffe auf die Küsten und dort auf die großen Städte konzentrieren: auf jene Orte, wo die meisten amerikanischen Juden zu Hause sind.
Es wird Zeit für die zweite politisch inkorrekte Gretchenfrage: Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit der ADL mit einer Regierung, die selbst Antisemiten in ihren Reihen beherbergt? Bekanntlich hat der amtierende Präsident mit zwei Holocaustleugnern zu Abend gegessen: mit dem Rapper Kanye West und mit Nick Fuentes, dem Chef der Groypers, einer neonazistischen Organisation.
In längst verwehten Zeiten hätte ein solches Treffen, wäre es je öffentlich geworden, das Ende einer politischen Karriere bedeutet; Trump hingegen hat sich damit gebrüstet. Sein FBI-Chef, Kash Patel, war neunmal im Podcast von Stew Peters zu Gast, einem rechtsradikalen Judenhasser, der an die Überlegenheit der weißen Rasse glaubt. Für die Regierung Trump arbeitet beim Department of Homeland Security ein gewisser Paul Ingrassia, der die Freundschaft mit Holocaustleugnern pflegt.
Die Anti-Defamation League wird zu 100 Prozent aus privaten Spenden finanziert und ist dementsprechend nicht von der amerikanischen Regierung abhängig – und kann auch nicht von ihr abgeschafft werden. Trotzdem: ADL muss sich mit dieser Regierung in ein Benehmen setzen. Wie, bitte, geht das?
Zunächst fällt Segals Antwort diplomatisch aus: Nach dem 7. Oktober 2023 wurden jüdische Studenten an amerikanischen Unis körperlich angegriffen, eingeschüchtert, bespuckt und beschimpft. Die Regierung Trump habe darauf reagiert, und dafür seien viele Juden sehr dankbar. Aber – und nun wird Segal mit jeder Minute undiplomatischer –, der Kampf gegen den Antisemitismus sei für die gegenwärtige Regierung ein trojanisches Pferd, in dessen Bauch sich Kulturkrieger verbergen, die ganz andere Dinge im Schilde führten.
So helfe es den Juden kein kleines bisschen, wenn keine Ausländer mehr in Harvard studieren dürften. Und überhaupt, sagt Segal: „Diese Regierung hat 1500 politische Extremisten freigelassen!“ Er spielt damit auf die Gewalttäter an, die am 6. Januar 2021 das Kapitol in Washington stürmten. Teil des Mobs war damals ein Mann, auf dessen Sweatshirt unter einem Totenkopf die Aufschrift „Camp Auschwitz“ prangte.
Wünscht sich Oren Segal deutsche Gesetze, die extremistische Aussagen und Holocaustleugnung unter Strafe stellen? In Amerika ist, im Unterschied zu Deutschland, beinahe alles erlaubt: Man darf Hakenkreuzflaggen schwenken, rassistischen Unfug verbreiten, zu Gewalt aufrufen. „Nein“, sagt Segal, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern. Was sei denn gewonnen, wenn man Holocaustleugner einsperrt? Ändere das etwa ihre Gesinnung?
Schamlose Antisemiten
Allerdings muss auch er zugeben, dass es heute nicht mehr möglich sei, Menschen so weit zu bringen, dass sie sich für ihren Antisemitismus wenigstens schämen. Der Antisemitismus sei dermaßen gesellschaftsfähig geworden, dass viele Menschen ihn gar nicht mehr als solchen wahrnehmen würden.
Hinzu kommt: Viele junge Amerikaner wissen nicht mehr, dass es den Holocaust gegeben hat. Laut einer Umfrage war 63 Prozent der unter 40-Jährigen nicht bekannt, dass die Nazis und ihre Verbündeten sechs Millionen Juden ermordet haben. Die Hälfte der Befragten glaubte, die Zahl der Opfer sei kleiner als zwei Millionen gewesen. Ein Zehntel der Befragten hatte den Begriff „Holocaust“ noch nie gehört.
Zeit für die dritte politisch inkorrekte Gretchenfrage: Wie hält man das alles aus? Wie ertragen es die Mitarbeiter des Center on Extremism, das weder Feierabend noch Wochenende kennt, sich jeden Arbeitstag mit radioaktiv strahlendem Gedankenmüll zu befassen, der jede Gehirnzelle verseuchen muss?
„Es ist viel schlimmer, als Sie denken“, meint Segal. Auch deshalb, weil Antisemitismus, Rassismus, Extremismus sich im Internet häufig in der Nähe anderer Verbrechen aufhalten, Kinderpornografie etwa. Segal sagt, er achte darauf, dass die Menschen, die für ihn arbeiten, ihre Urlaubstage wahrnehmen, dass sie zwischendurch ihre Gehirne auslüften. Außerdem hätten seine Mitarbeiter ein Anrecht auf gesundheitliche Betreuung. Dazu gehöre auch, dass sich speziell ausgebildete Psychologen um sie kümmern.
Es entsteht eine kleine Pause. Segal schaut haarscharf an seinem Besucher vorbei ins Nichts. „Ich verstehe mittlerweile ja Menschen, die mit einem Gewehr um sich schießen“, sagt Segal. „Ich meine, ich verstehe sie nicht, aber ich habe so viel mit ihnen zu tun gehabt, dass ich mich an sie gewöhnt habe. Wissen Sie, was ich nicht verstehe? Die Leute, die Plakate mit den Bildern der Kinder abreißen, die von der Hamas nach Gaza entführt wurden. Diese komplette Realitätsverleugnung!“
Das größte Problem unserer Zeit sei: dass so viele Menschen mittlerweile in einem Paralleluniversum leben, das mit der Wirklichkeit nichts mehr zu tun hat. Auch deshalb könne man gar nicht mehr angeben, ob der linke oder der rechte Antisemitismus schlimmer sei. Die Grenzen sind längst verschwommen.
Was muss jemand mitbringen, der sich für einen Job am Center on Extremism bewirbt? Oren Segal hätte jetzt sagen können: nachgerade militärische Arbeitsdisziplin. Oder: eine ins Grenzenlose ausufernde intellektuelle Neugier. Oder: Leidensfähigkeit, ein dickes Fell. Oder: Grundwissen darüber, was die Verschwörungserzählungen des Antisemitismus ausmacht, verbunden mit einem Bewusstsein über die lange Geschichte des Rassismus in den Vereinigten Staaten.
All das sagt er aber nicht. Stattdessen antwortet Segal: „Sinn für Humor.“ Dann lacht der Mann im Jackett, als ob die nächste Flasche Sekt schon geöffnet sei.
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