Lujain Hamza und ihre Mutter haben vor zwei Tagen die gemeinsame Wohnung im syrischen Suweida verlassen, um sich an einen sichereren Ort zu begeben. Es ist ein großes, weitläufiges Gebäude, in dem sie nun mit insgesamt 18 anderen Frauen und Kindern Schutz suchen. Immer wieder sind von draußen Schüsse und Explosionen zu hören.
„Wir haben Angst“, sagt Hamza. Alle Türen sind verschlossen, niemand wagt sich auf die Straße. „Ich fühle mich wie in einem Gefängnis“, erzählt die syrische Journalistin am Telefon. Sie hatte in der überwiegend von Drusen bewohnten Stadt über viele Monate die Proteste gegen das mittlerweile gestürzte Regime von Diktator Baschar al-Assad organisiert.
Nun bangt die 36-Jährige erneut um ihr Leben, genauso wie viele andere Drusen, eine religiöse Minderheit, die vor allem im Süden Syriens lebt. Um einen Eindruck von der drastischen Lage zu geben, geht Hamza nach draußen. Das zweifache Drehen des Schlüssels ist zu hören, dann das monotone Surren einer Drohne und immer wieder Gewehrschüsse. „Das ist ziemlich nah“, erklärt Hamza.
Als plötzlich eine Mörsergranate explodiert, kehrt sie sofort ins Haus zurück und schließt wieder sorgfältig ab. „Es sind extremistische Islamisten, die plündern und Brände legen“, erzählt sie. „Eine Ärztin wurde auf dem Weg ins Krankenhaus erschossen und 15 Menschen in einem Gästehaus“, berichtet sie WELT.
Seit vier Tagen wird in der rund 70.000 Einwohner großen Stadt südlich von Damaskus gekämpft. Rund 250 Menschen sollen nach Angaben der syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte (Sohr) bereits ums Leben gekommen sein. Auslöser war die Verhaftung und Misshandlung eines jungen Drusen durch beduinische Stammeskämpfer, worauf die seit Monaten angespannte Lage in der Region eskalierte.
Im Mai war es bereits zu tödlichen Zusammenstößen gekommen, nachdem beduinische Milizen, die Teil des neuen syrischen Sicherheitsapparats sind, mehrere drusische Dörfer attackiert hatten. Damals sorgten aus Damaskus heraneilende Regierungstruppen für ein Ende der Auseinandersetzungen und ein Abkommen zwischen den Konfliktparteien.
Eine ähnliche Lösung war wohl auch nach dem Ausbruch der neusten Feindseligkeiten geplant. Jedenfalls hatte Hikmat al-Hijri, der ranghöchste geistliche Führer der Drusen in Syrien, den Einmarsch von Einheiten der Regierung in einer ersten Erklärung noch begrüßt.
Das syrische Verteidigungsministerium verkündete sogar einen Waffenstillstand, der mit „Honoratioren und Würdenträgern“ vereinbart worden sei. „An alle Einheiten, die innerhalb der Stadt Suweida operieren“, schrieb Verteidigungsminister Murhaf Abu Qasra am Dienstag auf X. „Wir erklären eine vollständige Waffenruhe.“
Israel greift Verteidigungsministerium in Damaskus an
Doch dann überschlugen sich die Ereignisse. Die Regierungstruppen beteiligten sich Berichten zufolge am Kampf der Beduinen. Geschäfte wurden geplündert, Häuser in Brand gesteckt und drusische Zivilisten ermordet. Gleichzeitig sollen drusische Milizen 18 Regierungssoldaten in einem Hinterhalt getötet haben.
Dann griff Israel ein: Am Dienstag zerstörten israelische Drohnen Panzer und Artilleriegeschütze der syrischen Regierung auf dem Weg nach Suweida. Jerusalem rechtfertigt die Angriffe mit dem Hinweis, dass es „keine schweren Waffen im Süden Syriens duldet, die die Sicherheit Israels gefährden“. Am Mittwoch bombardierte die israelische Armee sogar das Zentrum von Damaskus, griff dort nach eigenen Angaben das militärische Hauptquartier an und erklärte, man beobachte das Vorgehen der syrischen Regierung gegen die Drusen im Süden genau.
„Das syrische Regime muss die Drusen in Suweida in Ruhe lassen und seine Truppen abziehen“, erklärte Verteidigungsminister Israel Katz. Die Armee würde die Truppen des Regimes so lange angreifen, bis sie sich aus dem Gebiet zurückziehen, so Katz weiter. „Sollte Damaskus die Botschaft nicht verstehen, werden die Maßnahmen gegen das Regime bald eskalieren.“
Jerusalem hatte bereits im Mai, nach den ersten Angriffen auf die Drusen, angekündigt, die religiöse Minderheit in Syrien vor Angriffen beschützen zu wollen. In Israel selbst leben rund 150.000 Drusen. Sie hatten damals zahlreiche Proteste organisiert, darunter auch Straßenblockaden, um die israelische Regierung zum Schutz ihrer Glaubensgemeinschaft in Syrien zu zwingen.
Im 11. Jahrhundert aus dem schiitischen Islam abgeleitet, machen die Drusen heute etwa drei Prozent der syrischen Bevölkerung aus. Die meisten der etwa 700.000 syrischen Drusen leben in der Provinz Suweida.
Doch der Angriff auf Suweida ist auch für alle anderen Minderheiten in Syrien eine erneute Warnung, dass sie der Regierung von Präsident Ahmad al-Scharaa nicht trauen können. Der ehemalige Dschihadist war nach einer Überraschungsoffensive seiner Miliz Hajat Tahrir al-Scham (HTS) im Dezember an die Macht gekommen. Die HTS ist ein unübersichtlicher und kaum zu kontrollierender Militärverband, zu dem auch zahlreiche radikal-islamistische Milizen gehören.
Massaker und Verfolgung von Minderheiten
In den vergangenen Monaten war es immer wieder zu gewalttätigen Zwischenfällen gekommen, an denen sich verschiedene Milizen beteiligten. Im März ereignete sich ein Massaker an der Mittelmeerküste, in der Heimat der Alawiten, einer Religionsgruppe, der auch der vormalige Diktator Assad angehörte. Bis zu 1700 Menschen wurden der syrischen Beobachtungsstelle zufolge damals getötet.
Im Mai folgte dann der erste Angriff auf das Drusengebiet in Suweida. Im Juni starben bei einem Selbstmordattentat auf die Kirche Mar Elias in Damaskus mindestens 26 Menschen. Seit Monaten werden zudem junge alawitische Frauen einführt, alawitische Männer und auch Kurden ermordet, die ebenfalls zu einer der vielen Minoritäten des Landes zählen.
Mittlerweile kursieren in den sozialen Medien zahlreiche Videos von Kämpfern, die Drusen misshandeln oder Leichen schänden. Wer sich an den Gräueltaten wirklich beteiligt, lässt sich nur anhand der Videos nicht unabhängig verifizieren.
In Suweida gingen die Kämpfe am Mittwoch weiter. „Angehörige der drusischen Gemeinschaft sind aus ihren Häusern vertrieben, getötet und entführt worden“, sagte Scheich al-Hijri. „Die HTS-Übergangsregierung unternimmt buchstäblich nichts, um diese Angriffe zu stoppen.“ Der Geistliche spricht von einem „völkermörderischen Krieg“ gegen die Drusen.
Al-Hijri fordert „internationalen Schutz“ und hat sich dafür auch direkt an den israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu gewandt. Ihm geht es darum, dass auch Europa und die USA die Realität in Syrien erkennen und die Anerkennung der Regierung in Damaskus beenden.
Brüssel und Washington ließen zuletzt die Sanktionen gegen Syrien aufheben. Das Kopfgeld von zehn Millionen Dollar, das auf Präsident al-Scharaa ausgesetzt war, hatte Washington schon im Dezember ausgesetzt. Vergangene Woche war der Beschluss gefasst worden, die HTS von der Liste ausländischer Terrorgruppen zu nehmen.
Für Drusen, Alawiten, Kurden und Christen in Syrien sind diese Entscheidungen kaum nachzuvollziehen. Schließlich sind sie die Opfer des Terrors islamistischer Kämpfer – und ein Ende ist nicht abzusehen.
Alfred Hackensberger hat im Auftrag von WELT seit 2009 aus mehr als einem Dutzend Kriegs- und Krisengebieten berichtet; vorwiegend aus den Ländern des Nahen und Mittleren Ostens wie Libyen, Syrien, dem Irak und Afghanistan, zuletzt aber auch aus Bergkarabach und der Ukraine.
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