Eine angesehene Juristin soll Bundesverfassungsrichterin werden. Bis ein Sturm der Entrüstung aufzieht, der CDU und CSU verschreckt. Zurück bleibt die Kandidatin. Sie wehrt sich noch, könnte aber umfallen. Geht es in diesem Streit wirklich um Frauke Brosius-Gersdorf?
Erkennbar angespannt sitzt sie da im Hamburger Studio des ZDF-Journalisten. Der Sendungstitel könnte lauten in Anspielung auf den Heinrich-Böll-Roman "Die verlorene Ehre der Frauke Brosius-Gersdorf". Denn das beklagt die Juristin ja im Gespräch mit Markus Lanz, deshalb will sie sich ja zur Wehr setzen: Die Potsdamer Professorin fühlt sich durch die Berichterstattung "diffamiert". Sie sagt über das Zitat eines katholischen Bischofs: "Das kann ich mir nicht länger gefallen lassen. Ich finde das infam." Sie werde seit Tagen bedroht, sogar mit dem Tod. Und dennoch: Im Streit um eine mögliche Berufung ans Bundesverfassungsgericht will Brosius-Gersdorf nicht aufstecken, noch nicht. Sie und ihre Fürsprecher sehen die Lage so: Gibt die 54-Jährige jetzt dem Druck nach, ist sie vielleicht das historisch erste Kampagnenopfer im Streit um Deutschlands höchste Gerichtsinstanz, aber ganz sicher nicht das letzte.
Brosius-Gersdorf ist eine Frau zwischen den Extremen. Die SPD-Bundestagsfraktion hält sie als "hochqualifizierte Kandidatin mit makellosem Werdegang und breiter fachlicher Anerkennung" für eine Idealbesetzung am Bundesverfassungsgericht. Die in ihrer Partei rechts außen stehende CDU-Abgeordnete Saskia Ludwig bewertet die Jura-Professorin dagegen als "eine Gefahr für die Unabhängigkeit und vor allem die Neutralität des Bundesverfassungsgerichts". Stand heute hat sich Ludwigs Wahrnehmung in der Unionsfraktion durchgesetzt. Dass die von den Sozialdemokraten vorgeschlagene Brosius-Gersdorf doch noch die für eine Zweidrittelmehrheit notwendigen Stimmen von CDU und CSU erhalten könnte, scheint unwahrscheinlich.
Eine stets auch politische Frage
Mit CSU-Chef Markus Söder oder dem CDU-Abgeordneten Tilman Kuban sind seit Freitag weitere Vertreter der beiden konservativen Regierungsparteien von der Kandidatin abgerückt. Bundeskanzler und CDU-Chef Friedrich Merz hat viele Worte darüber verloren, warum der Streit um ihre Person "kein Beinbruch" sei. Ein Wort zur Verteidigung der massiv unter öffentlichem Beschuss stehenden Frau fand Merz bislang nicht - und schon gar keines, das die eigenen Leute zum Überdenken ihrer Position anregen könnte. Vielmehr war am Dienstag zu hören, dass die Unionsfraktion irritiert über Brosius-Gersdorfs Auftritt bei Lanz sei. Das von der SPD vermittelte Angebot eines Gesprächs zwischen Juristin und Unionsabgeordneten wurde bislang nicht angenommen.
Der gesamte Vorgang, darin sind sich alle politischen Beobachter, SPD und Oppositionsparteien einig, ist beispiellos. Auch wenn es in der Vergangenheit immer mal wieder Aufregung um einzelne Kandidaten für das Bundesverfassungsgericht gegeben hat. Als die CDU den ehemaligen Ministerpräsidenten des Saarlandes, Peter Müller, für Karlsruhe vorschlug, wurde die Wahl trotz Müllers Erfahrungen als Richter und Justizminister wegen offensichtlicher Parteinähe kritisiert. Die im selben Jahr auf Vorschlag der Grünen gewählte Susanne Baer wiederum wurde von konservativer Seite als zu links und zu grün bewertet. Im Jahr 2020 wurde Ines Härtel vor allem deshalb Bundesverfassungsrichterin, weil maßgebliche Politiker endlich eine Person aus dem Osten in Karlsruhe sehen wollten. Der amtierende Gerichtspräsident, Stephan Harbarth, saß vor seiner Berufung zum Verfassungsrichter für die CDU im Bundestag.
Die Besetzung des Bundesverfassungsgerichts war eben immer auch politisch. Das Vorschlagsrecht für die Hälfte des Bundesverfassungsgerichts, acht von 16 Sitzen, durch die Fraktionen auf CDU, CSU, SPD und - bis zu ihrem Rausschmiss - FDP bringt die Politisierung der Kandidaten mit sich. Die notwendige Zweidrittelmehrheit im Bundestag soll zugleich verhindern, dass unqualifizierte Männer und Frauen einen Posten in dem hochangesehenen Gericht bekommen. Die notwendige Zustimmung der anderen erzwingt den Kompromiss.
Was heißt hier "neutral"?
Frauke Brosius-Gersdorf erfüllt auf den ersten Blick alle Voraussetzungen: Noch vor ihrem 40. Geburtstag wird die gebürtige Hamburgerin Professorin für öffentliches Recht. Verfassungsfragen beschäftigen die Juristin schon ihr ganzes Berufsleben. Für ihre Lehrtätigkeit wird sie zweimal ausgezeichnet. Dass sie selbst nie an einem Gericht gearbeitet hat, ist nachrangig. Von den je acht Richterstellen in beiden Senaten sollen nur jeweils drei mindestens mit ehemaligen Richtern besetzt werden. Das sind die sogenannten "Richter-Richterposten". Auch die Union hat schon Richter erfolgreich nominiert, die nur die juristische Forschung kennen und bis zu ihrer Wahl nie eine Richterrobe trugen.
Was Kandidaten mit einer rein akademischen Laufbahn gemein ist: Ihre Karriere fußt auf einer langen Liste öffentlicher und öffentlich einsehbarer Einlassungen und Einschätzungen. Sei es im Rahmen ihrer Forschung, ihrer Arbeit in Gremien, weil sie als bestellte Gutachter für öffentliche Institutionen und Parteien auftreten oder als fachkundige Gesprächspartner für Medien. Was diese Juristinnen und Juristen denken, wo sie in etwa politisch stehen, ist mithin transparenter und damit angreifbarer als bei Kandidaten für Richter-Richterposten. Innerhalb der Rechtswissenschaften erweckt Brosius-Gersdorf einen besonders meinungsfreudigen Eindruck. Sie hat sich mit zahlreichen Themen befasst, bei Weitem nicht nur mit der Legalität von Schwangerschaftsabbrüchen, der Impfpflicht oder der Frage eines AfD-Verbots.
Wenn nun die CDU-Abgeordnete Ludwig im "Stern" - ebenso wie mehrere AfD-Vertreter -von einem Gebot "absoluter Neutralität" spricht, ist das lebensfremd. Richter bringen natürlich ihre eigenen Perspektiven ein, weil die Auslegung des Grundgesetzes in vielen Fragen genau das ist: Auslegungssache. Der 76 Jahre alte Text muss permanent entlang neuer gesellschaftlicher und technologischer Entwicklungen ausgedeutet werden. Andernfalls wäre es ja nicht nötig, über die Besetzung durch Bundesrat und Bundestag gesellschaftliche Repräsentanz in Karlsruhe herzustellen.
Nicht ein Richter von Gnaden der AfD
Wo Ludwig schon eher einen Punkt hat: Diese Repräsentation gesellschaftlicher Verhältnisse und Stimmungen ist nicht mehr gegeben, weil die anderen Parteien der AfD-Fraktion kein Vorschlagsrecht einräumen und auch keine von der AfD nominierten Kandidaten mitwählen würden. Nach dem geltenden informellen Schlüssel kann die auf 120 Bundestagsmandate geschrumpfte SPD drei der acht Verfassungsrichter vorschlagen, die AfD mit 150 Sitzen keinen einzigen. Allerdings gibt es an der Grundgesetztreue der AfD erhebliche Zweifel und formell kann keine Partei Anspruch auf einen der Bundesverfassungsrichterposten erheben.
Die AfD wiederum dürfte Brosius-Gersdorf schon länger auf dem Zettel haben: Ausschnitte ihres Auftritts bei Markus Lanz im Jahr 2024 kursieren seit Tagen durchs Internet. Dort hatte sie die Prüfung eines Parteienverbots der AfD unter anderem als "starkes Signal unserer wehrhaften Demokratie" bezeichnet. Inzwischen will auch die SPD eine solche Prüfung und es wäre der Senat, für den Brosius-Gersdorf vorgeschlagen ist, der sich mit solch einem Antrag beschäftigen müsste.
Was viele an ihren damaligen Äußerungen missverstehen: Als Brosius-Gersdorf 2024 von der erwiesenen Gefährlichkeit der AfD sprach, meinte sie nicht deren Programm. Es ging ihr um die Größe der Partei und die Zahl ihrer Mandate. Das letzte NPD-Verbotsverfahren war daran gescheitert, dass die Richter ein Verbot unverhältnismäßig fanden angesichts der aufs Lächerliche geschrumpften Partei. Die AfD fürchtet vielleicht auch gar nicht, dass mit Brosius-Gersdorf in Karlsruhe ein Parteiverbot wahrscheinlicher wird. Es macht aus AfD-Sicht aber strategisch Sinn, schon Zweifel an der Unabhängigkeit des Gerichts zu säen, noch bevor dort überhaupt ein Prüfantrag eingegangen ist.
Die Sache mit der Menschenwürde
Die ebenfalls gegen Brosius-Gersdorf angeführte Behauptung, sie spreche Föten bis zum letzten Moment vor der Geburt das Lebensrecht ab, ist ebenfalls nachweislich falsch. In einer juristischen Fachdebatte über Rechte von Müttern und ungeborenen Kindern hat die Juristin darauf hingewiesen, dass die Menschenwürde mit ihrem Absolutheitsanspruch faktisch nicht für Föten gilt. Schließlich ist die Gesundheit der Mutter jetzt schon im Zweifel wichtiger und Grund zur legalen Abtreibung. Das Lebensrecht des Fötus werde in der Güterabwägung immer wichtiger, je weiter die Schwangerschaft vorangeschritten ist.
Den Absolutheitsanspruch der Menschenwürde wollte die Juristin in der Fachdebatte einem ungeborenen Kind aber nicht zugestehen, eben um rechtliche Klarheit zu schaffen, wessen Rechte im Zweifel überwiegen. Das muss niemand teilen. Die von sogenannten Lebensschützern - erzkonservativen Lobbyorganisationen von Abtreibungsgegnern - behauptete Kinderfeindlichkeit ist dennoch Unsinn. Was diese aber nicht abhält, gegen die Juristin Stimmung zu machen und es selbst mit der Menschenwürde der Kandidatin nicht so genau zu nehmen.
Eine unversöhnliche Kampagne
Eine Analyse des Berliner Politikberatungsunternehmens Polisphere zeigt, dass die Aufregung über Brosius-Gersdorf ihren Anfang bei erzkonservativen Medien mit gewisser Nähe zur AfD nimmt. Am 1. Juli erscheint ein erster Artikel auf der Plattform "Apollo News", kurz darauf steigen auch "Tichys Einblick" und "Nius" vom ehemaligen "Bild"-Chefredakteur Julian Reichelt ein. "Nius" veröffentlichte nach Zählung von Polisphere mindestens 20 Artikel zum Thema binnen zwei Wochen.
Parallel zu den Berichten dieser Plattformen tritt eine Aufregungswelle auf sozialen Medien wie X, Tiktok und Instagram los, die nicht nur die genannten Lebensschützer maßgeblich befeuern. Auch die besonders scharfen Kritiker der Corona-Politik wittern hinter Brosius-Gersdorf eine Scharfmacherin auf Seiten des Staates, weil sie 2021 argumentiert hatte, eine Impfpflicht könnte sich sogar als Gebot des Grundgesetzes deuten lassen.
Petitionen werden geschrieben, CDU-Abgeordnete gezielt haufenweise mit Emails überschüttet. Einige Abgeordnete spüren regelrechten Aufruhr in ihren Chatgruppen und Bürgerkontakten. In anderen Debatten machen andere Interessengruppen auch Stimmung, seien es Umweltorganisationen oder Wirtschaftsverbände.
Was aber anders ist im Fall von Brosius-Gersdorf: die Unversöhnlichkeit und Schärfe der Kritik. Brosius-Gersdorf sieht sich auf dem Höhepunkt einer beachtlichen akademischen Laufbahn durch den Dreck gezogen. Die Grünen sind überzeugt, mit einem Mann wäre so nicht umgegangen worden. "Wehrt euch!", ruft Grünen-Fraktionsvorsitzende Britta Haßelmann vom Bundestag aus den Frauen im Land zu. Auch da steckt Brosius-Gersdorf jetzt drin: in einem Geschlechterkampf, den sie nicht ausgerufen hat und den sie nur aus eigener Kraft entscheiden könnte, indem sie nachgibt und verzichtet.
Vielleicht geht es gar nicht um die Frau
Parallel findet das Thema Eingang in die breite mediale Berichterstattung. Ab dem 2. Juli finden sich sachliche, aber kritische Berichte in etablierten bürgerlichen Medien wie der der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" und der "Welt". Bei Lanz macht Brosius-Gersdorf deutlich, dass sie auch diese Berichte für teils falsch halte, insbesondere mit Blick auf ihre Haltung zu Schwangerschaftsabbrüchen. Mehrfach beschreibt sie ihre politischen Ansichten in der Sendung als "moderat" und durch die Bevölkerungsmehrheit gedeckt.
Selbst dem ausgewiesen konservativen "Neue Züricher Zeitung"-Korrespondenten Marc Felix Serrao fällt es am Ende der Lanz-Sendung erkennbar schwer, gegen eine Nominierung von Brosius-Gersdorf zu argumentieren. Sein stärkstes Argument lautet: Der angeschlagene Ruf der Kandidatin und der entstandene Zweifel an ihrer Unvoreingenommenheit in einem möglichen AfD-Verbotsverfahren würden das Ansehen des Gerichts bestätigen. Das Gegenargument von Anna Lehmann, Journalistin der linken "taz", lautet: Wenn das durchgeht, wird praktisch jeder Kandidatin und jeder Kandidat abschießbar - egal, ob sich erhobene Vorwürfe als unwahr heraustellen.
Das Dilemma treibt auch Brosius-Gersdorf um: Wenn dem Bundesverfassungsgericht ein Schaden drohe, "würde ich an meiner Nominierung nicht festhalten", sagt die Juristin am Dienstag bei Lanz. "Das ist ein Schaden, den kann ich gar nicht verantworten. Ich möchte auch nicht verantwortlich sein für eine Regierungskrise in diesem Land." Bölls Buch "Die verlorene Ehre der Katharina Blum" endet mit dem Suizid einer schuldlos diffamierten Frau. Glücklicherweise deutet nichts auf eine vergleichbare Gefährdung von Frauke Brosius-Gersdorf hin. An das Buch sei dennoch erinnert: Vielleicht geht es gar nicht um die Frau, vielleicht ist die Frau nur zufällig gerade das Gesicht eines demokratischen Systems unter Beschuss: "Die verlorene Ehre der parlamentarischen Demokratie" ist ein sperriger Titel, wirklich schlimm aber könnte das Ende der Geschichte sein.
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