Mit Angriffen auf Rekrutierungsbüros in der Ukraine versucht Russland, einen wunden Punkt zu treffen. Denn für die ukrainische Armee wird es immer schwieriger, neue Soldaten zu gewinnen.
Seit rund zwei Wochen setzt Russland im Angriffskrieg gegen die Ukraine eine neue Taktik ein. Bereits ab Februar war ein deutlicher Anstieg der bis dahin nur vereinzelten Brandanschläge gegen Einberufungsbüros der ukrainischen Armee zu beobachten. Für diese haben russische Geheimdienste nach Kiewer Angaben überwiegend junge Ukrainer, darunter auch Minderjährige, sowie zuletzt ebenfalls verstärkt Rentner rekrutiert.
Inzwischen vergeht so gut wie kein Tag, an dem während der immer stärker werdenden und vor allem auf zivile Ziele ausgerichteten Luftangriffe nicht auch ukrainische Rekrutierungszentren von Drohnen und Raketen angegriffen werden. Von Charkiw bis Odessa - inzwischen ist hinter solchen Angriffen ein klares System zu erkennen.
"Wir erleben einen weiteren Anstieg der russischen Aktivitäten im Bemühen, die Mobilisierungsprozesse in unserer Armee zu stören", kommentiert Witalij Saranzew, Sprecher der für Einberufungsbüros zuständigen ukrainischen Landstreitkräfte, das neue Vorgehen der Russen. Tatsächlich gehört die Mobilisierung zu einer der größten Herausforderungen im langen Abwehrkrieg gegen Russland. Zwar ist die ukrainische Armee von einem Kollaps nach wie vor weit entfernt, was auch die bisher geringen Erfolge der russischen Sommerkampagne an der Front belegen. Jedoch wird es für die ukrainische Armee mit der Zeit immer schwieriger, neue Männer zu gewinnen. Die russischen Versuche seien aus ukrainischer Perspektive aber vergeblich, sagt Saranzew: "Die Mobilisierung lief bei uns bisher, läuft ununterbrochen weiter und wird auch fortgesetzt."
"Einberufungsbüros müssen sich auf mobile Arbeit umstellen"
Dass Russland die Mobilisierung im Land effektiv stören kann, ist tatsächlich fraglich. Dafür sind zu viele Rekrutierungszentren über das Land verteilt. Zudem hat die Ukraine in den letzten Jahren einen großen Fortschritt dabei erzielt, die für die Mobilisierung notwendigen Datenbanken möglichst breit zu digitalisieren. Dennoch stellen die Angriffe die Ukraine vor praktische Herausforderungen. Einige Umstellungen werde man in den kommenden Wochen unternehmen müssen, sagt Oleksandr Fedijenko, Parlamentsabgeordneter der Regierungspartei Diener des Volkes. "Die Einberufungsbüros müssen sich auf mobile Arbeit mit ukrainischen Bürgern umstellen." Unterschiedliche Termine sollten möglichst an unterschiedlichen Orten stattfinden. Vor allem müsse aber alles getan werden, um größere Ansammlungen von Wehrpflichtigen und Zivilisten vor Rekrutierungsbüros zu vermeiden. Ähnlich äußerte sich Armee-Sprecher Saranzew.
Ob eine direkte Störung der Arbeit der Einberufungszentren wirklich das Hauptziel Russlands ist, darf allerdings stark bezweifelt werden. Denn die Mobilisierung ist wohl das sensibelste Thema für die ukrainische Gesellschaft, das durchaus innenpolitischen Sprengstoff birgt. Dass die Mobilisierung fortgesetzt werden muss, steht in der Ukraine außer Frage. Weniger ausgeprägt ist die Bereitschaft, das eigene Leben an der Front zu riskieren, zumal die rasante Entwicklung von FPV-Drohnen die frontnahen Gegenden noch gefährlicher macht. Hinzu kommen Vorfälle, die von der russischen Propaganda zwar maßlos übertrieben werden, gelegentlich jedoch vorkommen. Dafür gibt es im Ukrainischen schon länger einen Neologismus: "Bussifizierung". Der Begriff wurde 2024 zum Wort des Jahres gewählt. Er beschreibt die gewaltsame Straßenmobilisierung, bei der Männer in Busse gezwungen werden, um sie zur Armee einzuziehen.
Psychologische Kriegsführung
"Die Russen versuchen, einen Konflikt zwischen Militärs und Zivilisten zu provozieren", betont Iwan Timotschko, der Vorsitzende des Reservistenverbandes der ukrainischen Landstreitkräfte. Hauptziel Russlands sei es, Gegner der Mobilisierung auf verschiedene Weise zu aktivieren. Dabei spielt die psychologische Kriegsführung eine große Rolle. Am Sonntag stand etwa auf einer Drohne, die in einem Einberufungszentrum in der Stadt Samar in der Region Dnipro eingeschlagen war: "Von dankbaren Einwohnern der Stadt Samar an das Einberufungsbüro". Der Satz war auf Ukrainisch geschrieben. Es war nicht der erste Vorfall dieser Art in den letzten Tagen.
Im ukrainischen Internet gibt es zahlreiche Kommentare, in denen sich vermeintlich ukrainische Nutzer über Schläge gegen Einberufungszentren freuen. Der größere Teil davon dürfte von russischen Bots stammen. Allerdings ist nicht auszuschließen, dass einige ukrainische Männer insgeheim nicht traurig sind, wenn Einberufungsbüros angegriffen werden. Auch bei diesen Menschen löst Russland überwiegend keinerlei Sympathien aus. Die Einberufungszentren sind jedoch Teil einer Struktur, die ukrainische Männer in den möglichen Tod schicken könnte, auch wenn der Hauptverantwortliche dafür natürlich Putin heißt.
Ob Russland mit seiner neuen Taktik größeren Erfolg hat, ist trotzdem anzuzweifeln. Dafür ist die Ausgangslage zu eindeutig: Frieden, das haben die von den USA initiierten russisch-ukrainischen Verhandlungen gezeigt, lehnt Russland ab, es hält an seinen für die Ukraine völlig inakzeptablen Maximalforderungen fest. Den meisten Ukrainern ist unverändert klar, dass zum Widerstand keine realistische Alternative besteht. Auch sind die meisten bisherigen russischen Versuche, die ukrainische Bevölkerung zu zermürben und die innenpolitische Lage zu destabilisieren, größtenteils gescheitert. Die bisherigen Angriffswellen auf ukrainische Energieobjekte gingen etwa für Moskau eher nach hinten los und haben die Ukrainer eher vereint, statt für Proteste zu sorgen. Bei der Mobilisierung trifft Russland jedoch womöglich einen wunderen Punkt als sonst.
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