Für eine Diktatur wirkt der Vorschlag auf den ersten Blick vernünftig: In der staatlichen „Rossijskaja Gaseta“ hat sich Michail Schwydkoj für die offizielle Wiedereinführung der Zensur in Russland ausgesprochen. Der ehemalige Kulturminister, der heute Wladimir Putins Sondergesandter für kulturelle Zusammenarbeit ist, schwärmt für die alten Zeiten, als es „innerhalb der roten Linien Raum für Kreativität gab, für große Literatur, Journalismus mit Tiefgang, herausragendes Kino, Theater und Musik von Weltklasse“.
Die „roten Linien“ hat Schwydkoj damals als langjähriger Redakteur der wichtigsten sowjetischen Theaterzeitschrift miterlebt. Jetzt brauche es erneut „Tausende aufgeklärter Diener des Staates“, die anstatt von „Bürokraten unterschiedlicher Behörden“ eine „gesunde Situation im kreativen Umfeld“ sichern. Schwydkojs Schlüsselargument dabei: „Präventive Zensur“ à la Sowjetunion schütze vor der nachträglichen „strafenden Zensur“.
Seit Russlands Großinvasion terrorisiert die „strafende Zensur“ die russische Kulturszene. Viele der bekanntesten Musiker, von der legendären sowjetisch-russischen Pop-Diva Alla Pugatschowa bis zum Rapper Noize MC, haben das Land verlassen. Wegen ihrer Kritik am Ukraine-Krieg sind sie in Russland mit Auftrittsverboten belegt.
Razzien in Buchläden wegen „LGBT-Propaganda“, also subversiver Werbung für sexuelle Minderheiten, kommen in den letzten Monaten häufig vor. Verlage wie der Marktführer „Eksmo“ weisen den Buchhandel an, bereits ausgelieferte Bücher, die Homosexualität oder Feminismus thematisieren, „vor Ort zu vernichten“. Werke von unliebsamen Schriftstellern wie Boris Akunin oder Dmitrij Bykow sind seit fast zwei Jahren nicht mehr erhältlich. Schauspieler, die sich gegen den Krieg ausgesprochen haben oder sich nicht hinreichend patriotisch gebärden, landen auf informellen schwarzen Listen.
Strafverfolgungsbehörden finden viele Gründe, gegen unliebsame Kunstwerke vorzugehen, auch strafrechtliche. Zurzeit sind 41 der Urheber und Urheberinnen in Haft. Zu den bekanntesten Fällen gehört die Verfolgung der Regisseurin Jewgenija Berkowitsch und der Dramaturgin Swetlana Petrijtschuk, die wegen „Rechtfertigung von Terror“ zu je sechs Jahren Gefängnis verurteilt wurden.
Wer ins Exil gegangen ist, soll mit dem Strafrecht von der Rückkehr abgehalten werden – etwa der Schriftsteller Dmitrij Gluchowski, dem „Fakes“ über die russische Armee vorgeworfen werden, oder die Sängerin Monetoschka, die zur „ausländischen Agentin“ erklärt wurde und wegen Nichteinhaltung entsprechender Vorschriften belangt wird.
Zugleich existiert ein informelles System der „Rehabilitation“, das Künstlern wieder Auftritte in Russland ermöglichen soll. Wer widerruft, dem wird verziehen. Die Buße: Auftritte in den seit 2022 besetzten Gebieten der Ukraine oder vor entführten ukrainischen Kindern. Das kommt einem Bekenntnis zum russischen Angriffskrieg gleich und versperrt den Weg ins Exil.
Putin braucht Loyalität der Kulturszene
Aber der russische Staat hat ein Problem: Nur mit betont patriotischen Künstlern, Popmusikern und Schriftstellern sind die Bedürfnisse des Publikums nicht zu bedienen. Das Putin-System braucht die Loyalität der tendenziell liberalen und kremlkritischen Kulturszene, die aber zugleich mit punktuellen Repressalien im Zaum gehalten werden.
Das macht eine Rückkehr zum sowjetischen Zensursystem unwahrscheinlich, denn damals war wegen der präzisen ideologischen Vorgaben meist klar, was erlaubt und was verboten ist. Aber genau solche Klarheit sei nicht im Sinne des Kreml, glaubt der inzwischen in Israel lebende Literaturwissenschaftler Michail Edelschtein. Eine Rückkehr zur alten Zensur sei „utopisch“, weil der russische Staat „keine klaren Spielregeln“ brauche, sondern gerade Unsicherheit.
Die Künstler sollten „Angst haben und rätseln, was heute erlaubt und was verboten ist, sie sollen bei Bürokraten vorstellig werden, um sich mit ihnen zu beraten“, sagte Edelschtein im Gespräch mit dem Recherchemedium „The Insider“. Das Portal zitiert auch den in Berlin lebenden Dramaturgen Michail Kaluschskij. Er erwartet ein anderes Szenario: Die „präventive“ Zensur alter Schule werde zwar eingeführt, aber die neuartige „strafende Zensur“ werde deshalb nicht abgeschafft. Beide Systeme würden künftig koexistieren.
Vor allem in der Provinz werde es dadurch zu Exzessen der Zensur kommen. Statt „professioneller“ Zensur werde es das Publikum sein, das die Polizei ruft. Die Angst vor dem Volkszorn werde die Selbstzensur, die bereits in Russland herrsche, so zu einer Schlüsselkompetenz machen. Personen des öffentlichen Lebens würden dann einfach „alle Entscheidungen der Partei und der Regierung begrüßen“, glaubt Kaluschskij, um zu Hause in der Küche vor sich hin zu saufen. So wie einst in der Sowjetunion.
Pavel Lokshin ist Russland-Korrespondent. Im Auftrag von WELT berichtet er seit 2017 über Russland, die Ukraine und den postsowjetischen Raum.
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