Rund Tausend Drogentote, Jahr für Jahr. Baltimore wird die "Hauptstadt der Überdosen" genannt. Dass die Stadt an all dem Leid nicht zerbricht, hat sie Frauen wie Donna Bruce zu verdanken. Und einer Modenschau.

Vor zwei Tagen wäre ihr Sohn 36 Jahre alt geworden, doch er starb 2021 an einer Überdosis. Auch für ihn tanzt Donna Bruce jetzt in pinken, hochhackigen Schuhen im Festsaal des Weltkriegsmuseums von Baltimore auf und ab, Mikrofon in der Hand, hinter ihr eine riesige US-Flagge und die in Stein gemeißelten Namen toter Soldaten. Eine junge Frau in smaragdgrüner knielanger Hose mit Gucci-Print und passendem Bustier schreitet mit erhobenem Haupt an Donna Bruce vorbei, den Saal hinunter, ihre Bewegung begrenzt von den rund 20 Menschen, die links und rechts auf Klappstühlen sitzen. "Wunderschön", ruft Donna Bruce.

Die Modenschau eröffnet hat der Präsident des Stadtrats, Zeke Cohen. Er trägt Anzug, ist der einzige Weiße im spärlich gefüllten Saal und fordert alle auf, sich selbst zu applaudieren: fürs Erscheinen. Er ist zu Gast bei Donna Bruce' Selbsthilfegruppe, die auf den ersten Blick nicht wie eine wirkt; ohne zu verstecken, dass sie eine ist. Eine Gruppe, die die Entwürfe lokaler Designer feiert und trotz allem das eigene Leben. Cohen lobt in seiner Rede die Fortschritte Baltimores im Kampf gegen die Opioide. 2024 sank die Zahl der Drogentoten im Vergleich zum Vorjahr um ein Viertel.

Ein bittersüßer Erfolg. Denn keine andere Stadt in den USA ist so schwer getroffen von der Opioidkrise. Seit den 1990er-Jahren machten starke Schmerzmittel viele Millionen US-Amerikaner abhängig, trieben sie in den Missbrauch von Heroin oder dem wesentlich stärkeren, oft tödlichen Fentanyl. Opioide sind für den Großteil der 6.000 Drogentode verantwortlich, die Baltimore von 2018 bis 2023 verzeichnete. Das sind fast drei tödliche Überdosen jeden Tag, in einer Stadt mit 565.000 Einwohnern. Baltimore ist eine der ärmsten Städte der USA. Zwei Drittel der Drogentoten dort sind Schwarze. Eine Bevölkerungsgruppe, die besonders häufig von Armut betroffen ist.

400 Millionen Dollar aus Prozessen gegen Pharmakonzerne

Die "New York Times" nannte Baltimore vergangenes Jahr die "Hauptstadt der Überdosen". Wenn Fernsehsender berichteten, zeigten sie leere Kinderzimmer und weinende Mütter, Polizeisirenen, flatternde Absperrbänder und vermüllte Drogenhäuser.

Jeder Drogentote lässt Menschen zurück. Mütter, Liebhaber, Kinder, Großeltern. Bei Donna Bruce' Modenschau sind viele solcher Menschen zu finden. Eine Mutter auf der Bühne erzählt dem Publikum von ihrem Schicksal. Plötzlich war ihr 22-jähriger Sohn nicht mehr da. Die Frau konnte es nicht fassen, monatelang. Wie ein Bissen, den man einfach nicht herunterbekommt, sei das gewesen, sagt sie. Ein Bissen, an dem die trauernde Mutter zu ersticken drohte. Einer zweiten Frau ging es ähnlich. Als die sich gefangen hatte, gründete sie die Organisation "no other mother". Sie wollte nicht, dass andere Mütter allein mit dem Schmerz umgehen müssen, den sie erlebt hatte.

Baltimore bekämpft seine Opioidkrise seit Jahren mit einem Nasenspray. Der Wirkstoff Naxolon kann Menschen, die überdosiert haben, das Leben retten, wenn andere rechtzeitig reagieren. Deshalb schulte die Stadt mehr als Hunderttausend Bürger in der Anwendung; Apotheken, Büchereien und Supermärkte verteilen das Medikament inzwischen kostenlos. Mit Naxolon wurden mindestens 18.000 Leben gerettet, gibt die Stadt an.

Polizei, Krankenhäuser, Geschäfte und Vereine sind inzwischen untereinander vernetzt. Baltimore richtete Präventionsprogramme ein und eine rund um die Uhr erreichbare Notfallhotline. Dennoch stand die Stadt in der Kritik, weil trotz all der Bemühungen jedes Jahr mehr Menschen starben. Dieser Trend wurde erst 2022 gebrochen. Gemessen an der Einwohnerzahl verlor Baltimore damals aber noch immer mehr als doppelt so viele Menschenleben an Drogen als jede andere Großstadt in den Vereinigten Staaten.

"Der Club, in dem niemand Mitglied sein mag"

Baltimore reagiere noch immer zu langsam, heißt es in Medienberichten. Die Ansätze seien schlecht koordiniert, Langzeitbehandlungen kaum erreichbar. Statt sich um Süchtige zu kümmern, habe die Stadt neue Fronten eröffnet, schreibt die Regionalzeitung "Baltimore Banner", etwa den Kampf gegen Pharmakonzerne und Apotheken: Baltimore macht sie für die Drogenkrise verantwortlich und fordert, dass sie deren Bekämpfung bezahlen. Mehr als 400 Millionen Dollar hat die Stadt an der US-Ostküste bereits in Vergleichen mit fünf Konzernen erstritten. Kritiker bemängeln, Baltimore verliere sich in Klagen und vergesse dabei, dass weiter Menschen sterben.

Donna Bruce steht vor dem Foto ihres toten Sohnes. Sie steckt mitten in einer Scheidung. Ihr Auto wurde vor Kurzem gestohlen. Es wäre nur allzu verständlich, würde Donna Bruce sich in diesem Moment verloren fühlen. Aber das lässt sie nicht zu. Sie umarmt all ihre Gäste, feiert andere, lässt sich selbst feiern. "Wir hören immer nur, was alles falsch läuft", sagt sie. "Können wir bitte auch mal anerkennen, was gut ist?"

Donna Bruce hat selbst Missbrauch erlebt, war süchtig, verlor ihren Sohn. "Das ist der Club, in dem niemand Mitglied sein mag", sagt sie: "Aber ich bin die Präsidentin und stolz darauf." Wo andere der Abgrund verschluckt, scheint Donna Bruce Halt zu finden. Sie hat es zu ihrer Lebensaufgabe gemacht, anderen die Hand zu reichen. Bruce bietet Seminare an, bei denen Frauen lernen, mit ihren Traumata umzugehen. Mit Kosmetikkursen schafft sie Raum für Gespräche, die heilen. Ihre Modenschauen sind ein Anlass, die Jogginghose abzulegen und die Hilflosigkeit gleich mit. Donna Bruce und die anderen haben sich gemeinsam ein Stück Lebensfreude zurückerobert. Freude an der Gemeinschaft. Und an Kleidung.

Regierung krempelt Gesundheitssystem um

Präsident Donald Trump begegnet der Opioidkrise mit anderen Mitteln. Er will die Menge an Opioiden begrenzen, die in die USA gelangen und nimmt dafür Kanada, Mexiko und China in Haftung. Auch im Inland steigt der Druck: Vor einem Monat brüstete sich Generalstaatsanwältin Pam Bondi, den US-Behörden sei ein spektakulärer Schlag gelungen: sie hätten drei Millionen als Schmerzmittel getarnte Fentanyl-Pillen beschlagnahmt. Laut Bondi waren die Drogen in China hergestellt worden und über Mexiko in die USA gelangt. "Sie fluten unsere Straßen mit Massenvernichtungswaffen", sagte Bondi und kündigte an, für Drogenbosse werde es keine Gnade geben.

Der harte Kurs der Regierung weckt Ängste, vermeintlich weiche Ansätze wie Präventionsarbeit oder Versorgung Suchtkranker könnten vernachlässigt werden. Und tatsächlich sind im großen, am 4. Juli von Trump unterzeichneten großen Haushaltspaket drastische Kürzungen im Gesundheitsbereich enthalten. Damit möchte die Regierung rund eine Billion Dollar bis 2034 einsparen.

Schon jetzt sind die Prioritäten sichtbar. Die Behörde SAMSHA, die zum Gesundheitsministerium gehört und sich um Menschen mit Suchterkrankungen kümmert, will Ressortchef Robert F. Kennedy auflösen und die Aufgaben neu verteilen. Ein Drittel der Belegschaft hat Kennedy bereits entlassen. Der Minister sagt, er wolle die Aufgaben der Behörde effizienter angehen. "Wir wären aufgeschmissen, wenn diese Zuschüsse wegfielen", zitiert der Sender "NPR" eine Psychologin, die im US-Bundesstaat Missouri mit Süchtigen arbeitet. Ein anderer Mediziner berichtet, noch flössen die Mittel, aber viele Projekte hätten bereits ihre Ansprechpartner in der Behörde verloren.

Baltimore bewegt sich weiterhin in die entgegengesetzte Richtung. Sie kann sich das leisten, die Stadt hat dank Vergleichszahlungen von Pharmakonzernen viel Geld zu verteilen. Es könnten Milliarden werden, sagt Zeke Cohen. Das Urteil im größten der Prozesse steht noch aus. Wohin die Mittel fließen sollen, entscheidet die "Hauptstadt der Überdosen" in Abstimmung mit Krankenhäusern, Behörden, Vereinen und betroffenen Bevölkerungsgruppen. Zehn Millionen Dollar Fördermittel gibt es bereits für lokale Initiativen wie die von Donna Bruce. Sie müsse sich nur bewerben, sagt Zeke Cohen.

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