Die russische Armee spart an Material und verschleißt dafür ihre Soldaten. Zu Fuß rennen sie Richtung Frontlinie und versuchen, den ukrainischen Drohnen zu entkommen. Oberst Reisner erklärt den russischen Ansatz, und warum die Gefahr mit einem Auto sogar größer ist.
ntv.de: Herr Reisner, die russischen Truppen an der Front verlieren seit einiger Zeit deutlich weniger Material. Gibt es dafür eine Erklärung? Wird die Abwehr der Ukrainer schwächer? Gehen die Russen mit mehr Vorsicht vor? Überhaupt: Ist das Phänomen gut oder schlecht?
Markus Reisner: Ein Erklärungsmuster: Nach dreieinhalb Jahren Krieg gehen die russischen Reserven langsam zur Neige und man versucht, Material zu sparen. Dagegen sprechen aber die Rüstungszahlen. Die Produktion läuft auf Hochtouren, der Kreml investiert massiv und zunehmend in die Kriegswirtschaft. Nach Schätzungen stellt Russland jährlich 1200 Kampfpanzer her - 80 bis 90 Prozent davon stammen aus dem alten Sowjetbestand, der instandgesetzt wird, aber es wird auch neu produziert. Auch 1200 Schützenpanzer kommen jährlich dazu und bis zu 1500 Transportpanzer. Das sind sehr hohe Zahlen.
Wenn also der Erklärungsversuch Materialmangel nicht greift, was bedeuten die geringeren Verluste dann?
Wir sehen derzeit viele Frontvideos, in denen die russische Seite zunächst einmal kleine mobile Einheiten einsetzt, ohne Panzer. Das schont das große Gerät. Dadurch steht mehr Material zur Verfügung, um dezimierte Verbände neu auszustatten oder ganz neu aufzustellen. Wenn großes Gerät an der Front geschont, zugleich aber in großen Mengen produziert wird, dann stehen viele Panzer und Fahrzeuge zur Verfügung, um bestehende, dezimierte Verbände wieder neu auszustatten oder in der Hinterhand ganz neue Verbände aufzustellen. Diese Erklärung hören wir auch vom Nato-Generalsekretär und vom Generalinspekteur der Bundeswehr. Die russischen Streitkräfte regenerieren sich.
Mit Blick auf Luftangriffe scheint die russische Armee ebenfalls aus dem Vollen zu schöpfen.
Die Rüstungswirtschaft kann derzeit bis zu 200 Raketen und Marschflugkörper pro Monat fertigen, das berichtet der ukrainische Geheimdienst. Die Iskander-Raketenproduktion nimmt zu, aber auch die Herstellung der großen Geran 2-Kampfdrohnen, die zu Beginn des Krieges als Shahed-Drohnen vom Iran geliefert wurden. Im Juni haben die Luftangriffe stark zugenommen. Am 23. Juni 368 Drohnen, Marschflugkörper und Raketen, am 27. Juni 371, und gestern der absolute Höhepunkt bislang: 537, davon waren allein 60 Marschflugkörper und Raketen.
Sie fürchten, das ist kein einmaliger Ausreißer nach oben?
Ich fürchte, wir werden Angriffe mit solchen Zahlen - 500 Drohnen, Marschflugkörper und Raketen oder mehr - in Zukunft regelmäßig sehen. Die Produktionszahlen geben das her.
Wenn Sie sagen, die Russen setzen entlang der Front oftmals kaum großes Gerät ein, sondern schicken kleine Trupps los, geht dann die Materialschonung zulasten der Soldaten?
Ja, der russische Ansatz der Kriegsführung ist ganz anders als unserer. Russische Militärstrategen der Vergangenheit bestimmen bis heute die Einsatzführung. Der bis heute in Russland gelesene russische Militärtheoretiker Alexander Svechin zum Beispiel hat gesagt: Wenn es nicht gelingt, zu Kriegsbeginn den entscheidenden Schlag auszuführen, setzen wir auf Abnutzungskrieg. Mit unserem Humanpotential, unseren industriellen Möglichkeiten, Nachschub an Material und Streitkräften zu beschaffen, können wir jeden Gegner auf lange Sicht erdrücken.
Die Russen setzen also gar nicht darauf, durch Manöver, durch schnelles Bewegen möglichst schnell möglichst viel Raum zu gewinnen?
Nein, die Russen zielen darauf ab, die ukrainischen Streitkräfte entlang der gesamten Front zu binden. Ich beschreibe ihnen mal, was sich da täglich in einem der vielen Gefechtsstreifen abspielt: Zunächst versuchen die Russen gezielt, Funksysteme der Ukrainer aufzuklären und zu stören. Dann folgt Kampfunterstützung, zunächst mittels Gleitbomben-Abwürfen auf die ukrainischen Stellungen. Bomben-Treffer haben bereits eine verheerende Wirkung, dann kommt aber das Artillerie- und Mörserfeuer hinzu.
Das heißt, die ukrainischen Soldaten in den Verteidigungsstellungen stehen massiv unter Feuer.
Ja, zusätzlich dazu werfen an Frontabschnitten in einer nächsten Phase immer wieder russische Drohnen chemische Reiz- oder Kampfstoffe ab. So versucht man, die Ukrainer aus ihren Stellungen herauszuzwingen. In dieser Phase beginnen die Russen, mit First-Person-View-Drohnen anzugreifen. Sie fliegen bis in den Kampfgraben oder Unterstand. Erst nach diesen intensiven Phasen der Abnutzung durch Gleitbomben, durch Artillerie und Drohnen kommt es zu den Angriffen kleiner russischer Stoßtrupps, oftmals an den Flanken der Stellungen.
Bewegen die sich zu Fuß?
Zum Teil marschieren die Russen tatsächlich, teils fahren sie auf Motorrädern oder in zivilen Fahrzeugen. Das sind oft kleine, umgebaute Lieferwagen oder Zivilfahrzeuge, Buchankas oder Schigulis genannt. Mit denen fahren die Russen im Mad-Max-Stil herum und versuchen, zwischen den ukrainischen Stützpunkten hindurch hinter die Linie zu kommen.
Ist das nicht viel gefährlicher als in einem geschützten Panzer?
Entlang der gesamten Frontlinie gibt es eine Art "Todeszone", links und rechts der Front etwa bis zu 20 Kilometer breit. Dieses Gebiet ist vollständig unter Kontrolle von Drohnen beider Seiten. Kein großer Verband würde es schaffen, da durchzubrechen. Zu Fuß, in kleinen Trupps und als Einzelner hat man viel bessere Chancen, weil man einen geringeren sichtbaren "Abdruck" hinterlässt. Vor allem jetzt im Sommer, wo die Bäume Laub tragen. Ein Fahrzeug dagegen erkennt der Drohnenpilot auf Kilometer-Distanz, durch die Staubwolke zum Beispiel. Oder wenn sich die Sonne in der Windschutzscheibe spiegelt. Das Blinken ist verräterisch, es zeigt dem Drohnenpiloten die Position des Fahrzeugs. Aber auch für die Infanteristen ist ihr Einsatz absolut lebensgefährlich. Dadurch kommen die hohen Verlustzahlen auf russischer, aber auch auf ukrainischer Seite zustande.
Würden westliche Armeen es ablehnen, ihre Leute so ins offene Messer rennen zu lassen?
Absolut. Wir haben ein ganz anderes Mindset. Ziel westlicher Streitkräfte ist es es, das eigene Personal so einzusetzen oder zu unterstützen, dass die Verluste so gering wie möglich bleiben. Dieses Ansinnen sehen wir auf der russischen Seite kaum oder gar nicht. Man kämpft rücksichtslos, ohne Mitleid.
Welche Strecke legen die russischen Soldaten denn zu Fuß zurück?
Meistens sind es ein, zwei Kilometer, die man versucht vorzumarschieren und dann über Funk Unterstützung heranzuholen. Die Russen schieben weitere Trupps nach und meistens gelingt es ihnen dann, ein Stück Gelände in Besitz zu nehmen. Das ist sehr kleinteilig, aber an vielen Frontabschnitten und über lange Zeit ergibt das einen kontinuierlichen Vormarsch.
Zuletzt gab es aus den Reihen der ukrainischen Truppen offene Kritik - man habe das Gefühl, verschlissen zu werden.
Die Ukrainer wollen nicht bis zuletzt in ihren Stellungen verharren, sondern fordern mehr Beweglichkeit in der Verteidigung. Eine Stellung schneller und früher aufzugeben, sie dafür später vielleicht im eigenen Gegenangriff wieder zurückzuerobern. Wir dürfen nicht vergessen: Diese Front ist sehr lang, davon machen wir uns keine Vorstellung. Projizieren wir sie mal nach Mitteleuropa - dann verläuft sie von Norddeutschland bis hinunter nach Norditalien. Und an allen möglichen Stellen dieser Frontlinie versuchen die Russen, Druck zu machen, die Ukrainer permanent zu attackieren und zu binden, damit diese keine Reserven bilden können oder neue Kräfte aufstellen.
Die Ukrainer sind überall und permanent in Abwehr des russischen Drucks?
So ist es, auch wenn der vielerorts nur mit kleinen Trupps ausgeübt wird. Ich rechne damit, dass die Russen das große Gerät bewusst zurückhalten und damit neue Formationen aufstellen, um in einem entscheidenden, schwachen Moment der Ukrainer einen möglichen Durchbruch zu erzielen, eine Art Befreiungsschlag in der Sommeroffensive. Das hat man bereits letztes Jahr probiert. Es hat zwar nicht geklappt, aber die ukrainischen Stellungen sind heuer noch dünner als 2024.
Und dann ginge es plötzlich ganz schnell?
Wenn es den Russen gelänge, aus der ständigen Beobachtung ukrainischer Drohnen herauszukommen und in ein großräumiges Manöver zu kommen, dann könnte es sehr schnell gehen. Ich muss aber neuerlich wiederholen: Bislang hat das nicht geklappt, weil die Ukraine so stark gegengehalten hat. Aber wir müssen die Zeitachse betrachten. Es ist eine Ressourcenfrage, und das Gegenhalten wird für die ukrainischen Soldaten immer schwieriger, weil sie sich von einem Hilfspaket zum nächsten hangeln muss und nie wirklich verlässliche strategische Planungen oder operative Manöver ausarbeiten kann. Dafür bräuchte sie verlässliche Zahlen, was sie an Ausrüstung, Systemen, Munition bis wann bekommt. Ohne verlässlichen Nachschub lassen sich groß angelegte Verteidigungsanstrengungen nicht hinterlegen.
Eigentlich sollte 2025 wieder ein Jahr der Offensive werden, nachdem 2024 schon ein rein defensives Jahr war. Da ist aber nichts in Sicht?
Für eine Offensive müsste die ukrainische Armee zumindest regional, in einem Frontabschnitt, eine eigene Überlegenheit schaffen, im Verhältnis 3 zu 1 oder noch besser. Nur so könnte man die Russen zurückdrängen. Aber davon ist sie weit entfernt.
Im Raum Sumy ist es aber dennoch gelungen. Hat das keine Bedeutung?
Der Erfolg in Sumy ist klar im Zusammenhang mit dem Nato-Gipfel letzte Woche zu sehen. Die Ukraine wollte zeigen: Vergesst uns nicht, wir können die Russen zurückdrängen. Es lohnt sich, auf uns zu setzen. Das ist genau so ein punktueller Angriff, den die Ukraine immer mal erfolgreich starten kann. Meist in eine operative Pause der Russen hinein. Dann kommt es zu einer massiven Attacke, aber nach einigen Tagen ebbt es wieder ab, weil einfach die Arsenale leer sind. Dann geht der elende Abwehrkampf weiter.
Mit Markus Reisner sprach Frauke Niemeyer
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