Deutschland braucht einen Schutzschirm aus Raketen und Drohnen sowie den Zugriff auf Atomwaffen. Das zumindest forderten prominente Unionspolitiker am Wochenende – und rufen damit teils heftige Kritik aus dem Bundestag hervor.

„Europa muss abschreckungsfähig werden“, sagte etwa der Chef der Unionsfraktion im Bundestag, Jens Spahn (CDU), im WELT AM SONNTAG-Interview. Hierfür reichten die amerikanischen, teils in Deutschland stationierten Atomwaffen nicht mehr aus. „Wir müssen über eine deutsche oder europäische Teilhabe am Atomwaffen-Arsenal Frankreichs und Großbritanniens reden, möglicherweise auch über eine eigene Teilhabe mit anderen europäischen Staaten“, so Spahn.

Auch wenn es schnell zu „Abwehrreflexen“ komme, brauche es eine Debatte über einen „eigenständigen europäischen nuklearen Schutzschirm“, so der CDU-Politiker. „Und das funktioniert nur mit deutscher Führung.“ Die russische Aggression schaffe eine ganz neue Bedrohungslage. „Wer nicht nuklear abschrecken kann, wird zum Spielball der Weltpolitik.“

CSU-Chef Markus Söder forderte eine massive Aufrüstung der Luftabwehr. „Deutschland braucht einen Schutzschirm mit Präzisionswaffen“, sagte der bayerische Ministerpräsident der „Bild am Sonntag“. Dazu gehörten eine „moderne Drohnen-Armee mit 100.000 Drohnen“ sowie ein Abwehrschild „mit 2000 Abfangraketen“. Vorbild sei das israelische Raketenabwehrsystem Iron Dome. „Dazu sollten wir mit der Ukraine und Israel kooperieren und deren Erfahrungen nutzen.“

Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) hatte bereits im Mai angekündigt, mit den europäischen Atommächten Großbritannien und Frankreich Gespräche führen zu wollen über eine gemeinsame atomare Abschreckung – als Ergänzung zum atomaren Schutzschild der USA. Deutschland ist keine Atommacht, stellt aber im Rahmen der sogenannten nuklearen Teilhabe Kampfflugzeuge bereit, die im Verteidigungsfall mit US-Atombomben bestückt werden könnten, die in Deutschland lagern.

Beim Koalitionspartner SPD kommen die Vorstöße nicht gut an. „Jens Spahn hat in der Pandemie milliardenteure Maskendeals zu verantworten. Jetzt lenkt er mit atompolitischen Gedankenspielen davon ab“, teilte eine Spitzengenossin vom SPD-Bundesparteitag, der am Wochenende stattfand, mit. „Sicherheit entsteht nicht durch Aufrüstungsspektakel, sondern durch Verlässlichkeit in der Bündnispolitik. Wir setzen auf eine starke Nato und den Ausbau der europäischen Verteidigungskooperation, nicht auf deutsche Führungsfantasien bei Atomwaffen.“

Spahn steht derzeit für die Beschaffung von Schutzmasken in der Corona-Pandemie in der Kritik. Der Bundeshaushalt soll einem Untersuchungsbericht zufolge mit Kosten von rund sieben Milliarden Euro belastet worden sein, die in Spahns Zeit als Bundesgesundheitsminister unnötigerweise beschafft wurden.

„Einkaufsliste des bayerischen Ministerpräsidenten“ sei nicht relevant

Auch den Vorschlag aus Bayern kritisierte die Sozialdemokratin, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen will, scharf: „Zu Söder kann man auch sagen: Das, was die Bundeswehr beschaffen wird, richtet sich an den Bedarfen der Bundeswehr aus, die sich aus den Vereinbarungen zwischen den Nato-Partnern und der Bedrohung durch Russland ergeben, und nicht an der Einkaufsliste des bayerischen Ministerpräsidenten.“

Die AfD wiederum schloss sich der Forderung nach einer deutschen nuklearen Bewaffnung an. „Das Leitmotiv der AfD-Politik ist ein souveränes, also möglichst unabhängiges, Deutschland. Nukleare Abschreckung ist ein wesentlicher Bestandteil, um die Erpressbarkeit von Staaten zu reduzieren“, sagte Rüdiger Lucassen, verteidigungspolitischer Sprecher der AfD-Bundestagsfraktion. Die nukleare Teilhabe an amerikanischen Atomwaffen stehe in Frage, die Beteiligung an französischen oder britischen werde es nicht geben. „Ein deutsches Atomwaffenprogramm ist daher die logische Konsequenz.“

Das israelische Vorbild für ein Raketenabwehrsystem tauge nur bedingt, so Lucassen. „Israel muss seit Jahrzehnten auch Bedrohungen aus dem Nah- und Nächstbereich, aus Gaza und Libanon, abwehren. Das muss Deutschland nicht.“ Deutsche Raketenabwehr funktioniere nur im europäischen Kontext und müsse sich gegen „Bedrohungen aus einer Entfernung jenseits von 500 Kilometer Reichweite richten“. Es brauche zudem die Möglichkeit, Raketenabschussvorrichtungen oder weitere Infrastruktur „mit entsprechenden Wirkmitteln zu neutralisieren“.

Die Grünen halten Spahns Vorstoß hingegen für politische Taktik. „Jens Spahn redet von einer deutschen Atombombe und einem Iron Dome – aber wer schützt uns eigentlich vor seinem politischen Verantwortungsvakuum?“, fragte Sara Nanni, Sprecherin für Verteidigungspolitik der Grüne-Bundestagsfraktion. „Seine lautstarken Forderungen in der Verteidigungspolitik sind weniger sicherheitspolitisch motiviert als persönlich: Wer im Zentrum eines beispiellosen Milliarden-Maskenskandals steht, braucht offensichtlich dringend Nebelkerzen und Ablenkungsschutzschilde.“

Spahn lenke durch den Ruf nach mehr Härte davon ab, Verantwortung zu übernehmen. Dem Unionsfraktionschef mangele es an klugen Entscheidungen und sauberer Politik. „Die Wahrheit ist: Wären die Maskendeals unter Jens Spahn nicht so desaströs schiefgelaufen, stünde heute deutlich mehr Geld für echte Sicherheitsmaßnahmen zur Verfügung“, sagte Nanni WELT. „Statt Milliarden an Schadensersatz zu zahlen, könnten wir längst zusätzliche Munition beschaffen oder mehr Luftverteidigung finanzieren – so wie es die Ampel mit ESSI und Arrow begonnen hat.“ Die Ampel-Koalition aus SPD, Grünen und FDP kaufte das Abwehrsystem Arrow 3 aus Israel, das Schutz vor Langstreckenraketen bieten soll.

Die Linke hält deutsche Atomwaffen für ein „absolutes No-Go“. „Die Aufrüstung mit eigenen Atomwaffen ist der Endpunkt einer inzwischen nach oben offenen militärischen Aufrüstungswelle“, sagte Ulrich Thoden, verteidigungspolitischer Sprecher der Linke-Bundestagsfraktion. „Wer immer mehr aufrüstet, macht Krieg immer wahrscheinlicher.“

Eine wesentliche Schlussfolgerung für die neu gegründete Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg sei jener Verzicht auf Atomwaffen gewesen, sagte Thoden. Eine deutsche Beteiligung an Atomwaffen würden „die Nachkriegsordnung völlig auf den Kopf stellen“, auch gegenüber den Alliierten. „Atomwaffen mit deutscher Mitverfügungsgewalt sind das letzte Tabu, das nun Jens Spahn auch noch schleifen will“, so Thoden. Der Unionsfraktionschef stelle hierdurch ein „Sicherheitsrisiko“ dar.

Ein deutscher Iron Dome sei wiederum zu teuer. Zudem sei dieser bei der Größe Deutschlands „weder logisch noch militärisch immanent schlüssig“ und somit „schlicht unmöglich“, so der Linke-Politiker.

Unterstützung erhält Spahn aus seiner Fraktion. „Europäische nukleare Abschreckung ist das Fundament unserer Sicherheit. Europa muss dauerhaft und unter allen Umständen diese Fähigkeit gewährleisten, die uns dankenswerterweise über die Nukleare Teilhabe der Amerikaner zur Verfügung steht“, sagte Thomas Erndl (CSU), verteidigungspolitischer Sprecher der Fraktion. Deutschland müsse bei einer Weiterentwicklung der nuklearen Teilhabe oder bei europäischen Konzepten eine maßgebliche Rolle spielen.

Auch die Luftverteidigung müsse „massiv ausgebaut“ werden. Schon jetzt gebe es zwar entsprechende Systeme im Bundeswehr-Bestand. „Aber angesichts der massiven russischen Arsenale ist es richtig, dass wir das Augenmerk nun auf viel größere Stückzahlen richten. Wir brauchen wesentlich mehr Systeme und vor allem wesentlich mehr Munition“, so Erndl. Deutschland brauche eigene Produktionskapazitäten für Luftverteidigungsmittel, Raketen, Marschflugkörper und Präzisionswaffen.

Sahra Wagenknecht hält die Unions-Vorschläge für gefährlich. „Die Aufrüstungsdebatte wird immer wahnsinniger. Noch mehr Atomwaffen machen unsere Welt nicht sicherer, sondern erhöhen die Kriegsgefahr“, sagte die BSW-Vorsitzende. „Nicht zuletzt, weil damit die Gefahr wächst, dass schon ein Missverständnis einen nuklearen Schlagabtausch auslösen kann, der Europa unbewohnbar machen würde.“ Es sei perfide, dass Spahn eine „Atomwaffendiskussion anzettelt“, um von der Masken-Affäre abzulenken. „Spahn sollte sich beim Steuerzahler entschuldigen und sich aus der Politik zurückziehen.“

Die Raketen, die Israel bedrohten, seien völlig andere, als jene, die Deutschland bei einem Krieg mit Russland treffen könnten. „Gegen eine Oreschnik gibt es keinen Iron Dome“, so Wagenknecht. Oreschnik ist eine russische Mittelstreckenrakete, mit der das Regime bereits die Ukraine beschoss. „Wer den Menschen einredet, es gäbe einen wirkungsvollen Schutz im Falle eines nuklearen Konflikts, belügt sie“, sagte die BSW-Chefin. Der einzige wirksame Schutz sei es, „die aktuelle Spirale aus Wettrüsten und zunehmender Konfrontation wieder zu verlassen“ und vertrauensbildende Maßnahmen zu schaffen.

Politikredakteur Kevin Culina berichtet für WELT über die Linkspartei und das Bündnis Sahra Wagenknecht.

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