Europa ist Zielscheibe eines regelrechten Bombardements an Informationsmanipulation aus Russland. Das Auswärtige Amt warnt gar vor einem "globalen Bedrohungsfaktor". Der britische Journalist und Autor Peter Pomerantsev beobachtet diesen russischen Informationskrieg seit Jahren. Er untersucht, was gegen Propaganda hilft. Im Interview mit ntv.de spricht er darüber, was Demokratien Diktaturen entgegensetzen können - und was man heute von der britischen Gegenpropaganda gegen die Nazis lernen kann. Er fordert: Statt nur zu reagieren, müssen Demokratien aktiver gegen die Desinformation vorgehen.
ntv.de: Sie beobachten russische Desinformation und Propaganda seit Jahrzehnten. Inwieweit hat sie sich weiterentwickelt?
Peter Pomerantsev: Die russische Propaganda von heute basiert auf dem, was sie im Kalten Krieg gemacht haben: der Schaffung von Tarnorganisationen und Fake News. Im digitalen Zeitalter ist es viel einfacher, aber im Grunde sehr ähnlich. Es werden die alten Zutaten in ein neues digitales Modell integriert. Und das machen nicht nur die Russen.
Eine Möglichkeit ist offene Propaganda, wie etwa über den TV-Sender Russia Today. Und dann gibt es noch andere, wie die heimliche Finanzierung westlicher Youtuber oder die Erstellung von gefälschten Websites westlicher Medien, um die Leute zu verwirren und Kreml-Narrative zu verbreiten. Oder was sie 2016 gemacht haben: gefälschte Twitter-Konten, um die amerikanischen Wahlen zu manipulieren.
Warum sind die Manipulationskampagnen russischer Akteure immer noch so erfolgreich?
Ehrlich gesagt: Da kämpft nur eine Seite, deshalb ist sie so erfolgreich. Wir befinden uns in einer völlig asymmetrischen Situation. Wir denken über Widerstandsfähigkeit nach und wie wir Demokratien verteidigen können, aber selbst das ist für alle außerhalb des Baltikums, Skandinaviens und Polens noch eine sehr neue Idee. Wir kümmern uns also hauptsächlich um die Abwehr. Ich denke, wir sollten auch offensiv agieren. Aus meiner Sicht wird das auch ein sehr wichtiges Element der Abschreckung sein.
Und versteht irgendjemand in Europa oder weltweit, wie Gegenpropaganda mit Blick auf Russland funktionieren könnte? Gibt es erfolgreiche Maßnahmen?
Nein. Es wird viel darüber nachgedacht, wie man Gegenpropaganda für ein Publikum betreibt, das anfällig für radikal-islamischen Terrorismus ist. Aber es ist etwas anderes, wenn man es mit einem Atomstaat wie Russland zu tun hat. Terrorgruppen haben einfach eine ganz andere Logik, es geht um ziemlich spezielle psychologische Fälle. Bei Russland geht es aber um ein Land mit 140 Millionen Einwohnern. Es ist also ein ganz anderes Umfeld und man müsste eine ganz andere Wirkung erzielen. Vor allem aber bräuchte man dafür grünes Licht von allen westlichen Regierungen - wie damals bei der Anti-IS-Koalition.
Müsste man all diese 140 Millionen erreichen?
Im Idealfall ja, aber man würde natürlich mit der Armee beginnen. Ich finde das absurd: Wir haben keine große Informationskampagne gegen die russische Armee, ihre Familien und die Mobilmachung gestartet. Diese Tatsache zeigt im Grunde, wie wenig ernst wir es meinen.
Die Ukrainer würden es gerne tun, aber es erfordert enorme Ressourcen. Ich denke, aus meinem letzten Buch "How to Win an Information War" geht klar hervor, dass enorme Ressourcen dafür aufgewendet werden müssen. Stattdessen hoffen wir einfach, dass Putin irgendwann die Lust verliert.
Wen müsste man noch erreichen?
Vor allem die Teile der Bevölkerung, um deren Kontrolle der Kreml selbst am meisten besorgt ist. Die Botschaft an den Kreml muss lauten: Ihr habt bestimmte Dinge nicht unter Kontrolle, etwa das Vertrauen der Menschen in den Rubel, Putins Beliebtheitswerte - all diese Dinge, von deren Kontrolle er besessen ist. Wenn man zeigt, dass wir das untergraben können, würde es den Kreml dazu bringen, seine aggressiven Kalkulationen zu überdenken.
Bevor wir uns jedoch mit komplexeren Ideen zur Kreml-Theorie von Kontrolle und Wandel befassen, sollten wir zunächst bei den Streitkräften ansetzen, bei ihren Familien, der gesamten Architektur, den Fabrikstädten, die die Waffen produzieren. Dort wäre der erste Schritt, um die Menschen einzubeziehen.
In Ihrem Buch "How to Win an Information War" beschreiben Sie, wie der Brite Sefton Delmer im Zweiten Weltkrieg die Nazis mit ihren eigenen Mitteln bekämpfte. Sie bezeichnen ihn als ein "fast vergessenes Genie der Propaganda". Was macht seine Methoden besonders?
Ich war einfach fasziniert von diesem Sefton Delmer, denn er machte etwas ganz anderes als das, was ich heute in Russland sehe, und zwar viel cleverer. Er wollte, dass die Deutschen wissen, dass seine gefälschten Nazi-Propagandasender in Wirklichkeit britisch waren. Als mir das klar wurde, war das für mich ein ganz neues Thema.
Delmer hatte also etwas Grundlegendes über die Natur der Propaganda verstanden und warum Menschen davon angezogen werden - und was man dagegen tun kann. Sein Radiosender konzentrierte sich darauf, das Monopol der Nazis auf starke Gefühle zu brechen. Es war voller Pornografie, sexuellem Verlangen, Wut und Bissigkeit. Im Gegensatz zur BBC, die sehr edel gesinnt war und Vorträge von Thomas Mann ausstrahlte.
Inwieweit sind Delmers Methoden heute relevant?
Delmer würde die sozialen Medien lieben. Für ihn ging es darum, Menschen zu einer emotional befriedigenden Performance einzuladen. Er hatte eine sehr theatralische Sicht auf das Leben: Er sah, dass Menschen sich ständig nach Rollen sehnen. Und die Nazis gaben ihnen eine Sprache, ein Überlegenheitsgefühl, eine Uniform, eine ganze Gefühlswelt, eine Rolle, die zutiefst befriedigen konnte. Die Menschen genossen die groteske Performance, an der die Nazis sie teilhaben ließen.
Und genau darum geht es in den sozialen Medien: Sei es ein harmloser Tiktok-Tanz, den man nachahmen soll oder der Beitritt zu einer konspirativen Community wie QAnon. Delmer ist unglaublich auf den performativen Aspekt von Propaganda fokussiert und darauf, wie jede wirksame Gegenpropaganda effektivere Gemeinschaften und ein besseres Verständnis für die tiefsten unterdrückten Wünsche der Menschen schaffen muss.
Wie kann das bei russischen Soldaten funktionieren?
Wenn man den Leuten einen Grund gibt, einzuschalten, dann tun sie es auch. Allerdings muss man sich Gedanken machen um ihre Sicherheit, und man muss den Leuten einen Vorwand geben, sich Inhalte anzusehen, die für sie ungefährlich sind, denn das Teilen ausländischer Inhalte ist in Russland gefährlich.
Aber wie könnte man die russischen Soldaten dazu bewegen, zuzuhören?
Wir müssen uns vor Augen halten, wo wir hinwollen: die Unterstützung für den Krieg verringern. Dafür muss man den Menschen zuhören, auch wenn man sie nicht mag. Unser Ziel ist es, Frieden zu schaffen, nicht, moralische Argumente vorzubringen. Delmers große Erkenntnis war, dass man das Soldatenleben besser verstehen muss als ihre Kommandeure und ihre Propaganda. Allerdings erfordert es enorme Recherchearbeit.
Wir wissen, dass die Darstellung der russischen Gräueltaten in der Ukraine viele Russen nicht berührt und dass die Darstellung toter russischer Soldaten viele Russen eher aggressiver macht. Viel stärker sind ihre Sorgen um Finanzen. Die meisten russischen Soldaten kämpfen derzeit für Geld, aber ihre Familien sorgen sich, dass diese Zahlungen nicht geleistet werden. Innerhalb der Armee herrschen enorme Spannungen zwischen Kriminellen und einfachen Soldaten - denn niemand möchte einen Schützengraben mit einem Vergewaltiger teilen. Auch wissen wir, dass die zunehmende Kriminalität die Unterstützung für den Krieg mindert, denn das stellt Putins Behauptung infrage, er sei ein starker Mann, der für Ordnung sorgt.
Man fängt also bei den Soldaten an und arbeitet sich dann weiter vor?
Man muss verstehen, dass der Kreml Angst davor hat, die Kontrolle über sie zu verlieren, und dass dies einen Katalysatoreffekt auslöst, der andere Teile der Gesellschaft außer Kontrolle geraten lässt. Deshalb wollen sie alles bis hin zu den Medien kontrollieren, obwohl es keine Wahlen gibt. Also muss man einen systemübergreifenden Angriff auf ihr Kontrollgefühl starten.
Als die Offensive in Kursk losging, hätten wir Nato-Manöver rund um Kaliningrad durchführen und mit einer Blockade drohen sollen. Wir hätten die Informationskampagnen im ganzen Land verstärken sollen. Dann verhängt man Sanktionen gegen chinesische Banken und lässt eine riesige Menge an Dokumenten über Elwira Nabiullina [die Leiterin der russischen Zentralbank] und was sie wirklich über Putin denkt durchsickern. Man erhöht also auf allen Ebenen den Druck. Nur so bringt man den Kreml dazu zu sagen: "Okay, das gerät außer Kontrolle. Lasst uns reden. Wir respektieren euch."
Sie haben Ihre Dokumentationsarbeit im Bereich der Kriegsverbrechen erwähnt: Sie zeigen, welche russischen Propagandakampagnen den Kriegsverbrechen Russlands vorangehen, etwa dem Angriff auf das Krankenhaus in Mariupol. Warum ist das wichtig?
Desinformation als solche zu verfolgen, verstößt gegen das Recht auf Meinungsfreiheit. Ich denke, Deutschland liegt da falsch. Desinformation an sich ist nicht illegal. Wir müssen also viel gründlicher darüber nachdenken. In diesem Bericht haben wir versucht, Desinformation nicht als eigenständiges Phänomen zu betrachten, sondern sie mit Kriegsverbrechen in Verbindung zu bringen.
Welche Rolle spielt Propaganda bei den Kriegsverbrechen Russlands?
Russische Propaganda spielt eine zentrale Rolle bei Kriegsverbrechen: Sie bereitet über das Staatsfernsehen und die von den Geheimdiensten kontrollierten Telegram-Kanäle gezielt Angriffe vor, indem sie etwa behauptet, Asow-Kämpfer versteckten sich in Kinderkrankenhäusern oder Ukrainer bombardierten die eigenen Zivilisten. Unser Bericht dokumentiert diese Desinformationsmuster, die oft schon vor den Verbrechen beginnen - wie etwa beim Angriff auf den Bahnhof von Kramatorsk. Propagandisten leisten damit Beihilfe, vergleichbar mit jenen, die Leichen nach einem Völkermord verstecken. Indem man Propagandisten direkt für ihre Beteiligung an Kriegsverbrechen verfolgt, schafft man auch eine Basis für offensive Maßnahmen, etwa durch politische Verfahren, Sanktionen, aber auch Druck auf die Technologieunternehmen.
Mit Peter Pomerantsev sprach Kristina Thomas
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