Beide Seiten wollen die deutsche Verteidigungsfähigkeit stärken, beide Seiten fordern diplomatische Initiativen. Und doch streitet der SPD-Parteitag in Berlin leidenschaftlich über das "Manifest" von Stegner und Mützenich. Der Applaus zeigt, was die Mehrheit denkt.
Mitunter recht kontrovers hat die SPD auf ihrem Parteitag in Berlin über ihr Selbstverständnis als Friedenspartei diskutiert. Allerdings bestand die Kontroverse nicht in großen inhaltlichen Differenzen, sondern letztlich in der Frage nach dem richtigen Umgang mit Russland.
Aufhänger der Debatte war das "Manifest" der SPD-Politiker Ralf Stegner und Rolf Mützenich, das diese gut zwei Wochen vor dem Parteitag veröffentlicht hatten. Sie und die anderen Unterzeichner fordern darin "Friedenssicherung in Europa durch Verteidigungsfähigkeit, Rüstungskontrolle und Verständigung".
Stegner betonte in der Debatte, schon der Titel des Manifests zeige doch, dass es der Initiative nicht um einseitige Abrüstung gehe, sondern um mehr Diplomatie. Allerdings hatten die meisten Redner, die das Papier kritisierten, mit diesem Punkt auch keine Schwierigkeiten. Ihnen ging es vor allem um die aus ihrer Sicht naive oder gefährliche Haltung zu Russland.
Mützenich ist nicht dabei
So heißt es im Manifest: "In Deutschland und in den meisten europäischen Staaten haben sich Kräfte durchgesetzt, die die Zukunft vor allem in einer militärischen Konfrontationsstrategie und hunderten von Milliarden Euro für Aufrüstung suchen. Frieden und Sicherheit seien nicht mehr mit Russland zu erreichen, sondern müsse gegen Russland erzwungen werden." Von diesen "Kräften" will sich das Manifest offenkundig distanzieren, ebenso von der Haltung, Frieden müsse aktuell gegen Russland durchgesetzt werden.
Rolf Mützenich, bis vor kurzem Fraktionschef der SPD im Bundestag, nahm an der Debatte nicht teil - er war zum Parteitag gar nicht erst gekommen. Dem "Spiegel" sagte er, er fühle sich von seiner Partei missverstanden. "Die Vehemenz der Angriffe, ja, auch die Anfeindungen aus der SPD haben mich irritiert und verunsichert."
Gerade diese Art der Kommunikation ging einigen Delegierten gegen den Strich. In der SPD sei ja immer viel von Respekt die Rede, sagte Oleg Shevchenko aus Thüringen. Und fügte in Richtung Stegner und Co. hinzu: "So viel Respekt habe ich nicht wahrgenommen." Es sei respektlos, dass die Gruppe sich nicht mal die Mühe gemacht habe, einen Antrag für den Parteitag zu schreiben. Stattdessen hätten sie ihr Manifest medienwirksam unter die Leute gebracht - und dann gefordert, es in der Debatte zum Leitantrag zu diskutieren, also im Hauptprogramm des Parteitags. Der Leitantrag, in dem es um die künftige Ausrichtung der SPD insgesamt geht, wurde am Abend beschlossen.
"Diese wahnsinnige Aufrüstung"
Stegner begann seine Rede damit, die SPD sei "Friedenspartei", habe aber wegen ihrer Haltung in dieser Frage Stimmen an die Rechtsradikalen und die Linkspopulisten verloren, also an AfD und BSW, zudem an die Linkspartei. Zugleich betonte er, die Unterzeichner des Manifests seien der Meinung, dass die Ukraine unterstützt werden müsse. Ohne Luftabwehr auch aus Deutschland würden dort noch mehr Menschen sterben.
Auch die Stärkung der Verteidigungsfähigkeit in Deutschland sei richtig. "Aber wir müssen darüber reden, ob diese wahnsinnige Aufrüstung der richtige Weg ist." Ihm sei "Realitätsverweigerung" vorgeworfen worden, sagte Stegner; ein Vorwurf, den Verteidigungsminister Boris Pistorius erhoben hatte. Realitätsverweigerung sei doch aber, wenn das Nato-Ziel auf 5 Prozent erhöht werde, wenn man schon Schwierigkeiten habe, Verteidigungsausgaben in Höhe von 2,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu stemmen. "Glaubt irgendjemand, dass die Waffen nicht eingesetzt werden, wenn wir so viel Hochrüstung haben?", beschwor er die Delegierten dann noch, wieder im raunenden Ton der "Kräfte" aus dem Manifest.
Klingbeil zeigt klare Kante
An Klingbeil gewandt sagte Stegner, er habe "keine Lust, dir irgendwelche Schwierigkeiten zu machen". Das Manifest war als Tiefschlag gegen den SPD-Vorsitzenden interpretiert worden, denn auf Klingbeil ging die Neuausrichtung der Haltung zu Russland maßgeblich zurück. Stegner sagte sogar noch, Pistorius sei "ein fantastischer Verteidigungsminister".
Bei all dieser Übereinstimmung und Differenzen nur im Detail konnte man sich schon fragen, was eigentlich der Sinn des Manifests sein sollte. Das machte Stegner ebenfalls deutlich: "Es gibt immer eine Alternative zum Krieg", rief er zum Ende seines Debattenbeitrags. "Zum Frieden gibt es keine!"
Klingbeil hatte schon in seiner Rede am frühen Nachmittag deutlich gemacht, dass er für eine Neuausrichtung der SPD in dieser Frage nicht zur Verfügung steht. "Mit mir wird es keinen anderen Weg in der Ukraine-Politik unserer Partei geben", sagte er kategorisch. "Wladimir Putin ist nicht Michail Gorbatschow. Wir müssen heute alles tun, um uns vor Putins Russland zu schützen." Klingbeil wies den Vorwurf zurück, die SPD habe einen zu wenig starken Schwerpunkt auf die Diplomatie gelegt. Der ehemalige Bundeskanzler Olaf Scholz habe genau das getan.
An der Ukraine hat es nicht gelegen
Auch Bas ging klar auf Distanz zum Manifest, wenn auch weniger scharf. Die SPD müsse außenpolitisch Farbe bekennen, durch "kluge Diplomatie", "aber auch durch militärische Stärke". Das sei "ein schwieriges Thema, auch für mich persönlich".
Am Abend, nach seinem schlechten Ergebnis bei der Wahl zum Parteivorsitzenden, griff Klingbeil seine Ansage vom frühen Nachmittag wieder auf. Es sei für ihn "ein schweres Ergebnis", sagte Klingbeil, er hätte sich gewünscht, dass der eine oder die andere von denen, die ihn nicht gewählt hätten, dies in der Debatte erklärt hätten. Tatsächlich hatte es darin nur vereinzelt Kritik an Klingbeil gegeben - ein so schlechtes Ergebnis war auf Basis der Wortmeldungen nicht zu erwarten gewesen. Geprägt war die Debatte eher von einer Mischung aus Ratlosigkeit und klassisch sozialdemokratischen Appellen an Geschlossenheit und soziale Gerechtigkeit.
Klingbeil sagte dann noch als Kommentar zu seinem Wahlergebnis, ihm sei klar, dass seine Ukraine-Politik nicht allen gefalle, "aber diesen Weg gehe ich weiter". Das schlechte Wahlergebnis auf seine Haltung zum russischen Krieg gegen die Ukraine zu drehen, war vermutlich clever - denn genau daran dürfte es am wenigsten gelegen haben.
Mehr Applaus für Pistorius als für Stegner
Aus Sicht der SPD-Basis gibt es ganz andere Gründe, Klingbeil abzulehnen: sein Umgang mit dem Ausgang der Bundestagswahl im Februar, der Umgang mit seiner Co-Chefin Saskia Esken. In seiner Rede hatte Klingbeil zwar Verantwortung für das Wahlergebnis übernommen. Aber anders als Esken hat er nicht auf sein Amt verzichtet, sondern weitere Ämter angehäuft, das des Bundesfinanzministers und das des Vizekanzlers. Vielen in der SPD ist das offenkundig sauer aufgestoßen. Andere stören sich vielleicht an anderen Dingen. "Wir sind zu langweilig", rief beispielsweise Ex-Arbeitsminister Hubertus Heil den Delegierten zu. Die quittierten das mit Applaus.
Nach dem Applaus in der Debatte zu urteilen, trägt eine sehr deutliche Mehrheit der SPD-Delegierten Klingbeils Ukraine-Politik klar mit; zumindest auf dem Parteitag sind Stegner und Mützenich mit ihren Positionen klar in der Minderheit. Der frühere SPD-Chef Martin Schulz verwies auf den Satz des russischen Präsidenten Wladimir Putin, wo immer ein russischer Soldat seinen Stiefel hinsetze, da sei russisches Territorium - ein Satz, über den der niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil zu Beginn des Parteitags gesagt hatte: "Das ist völkischer Imperialismus." Schulz sagte: "Wer sich gegen diese Leute wehren will, der rüstet nicht auf, sondern der sorgt für den Schutz unserer Kinder und Enkelkinder!"
Auch Verteidigungsminister Pistorius meldete sich zu Wort. Er betonte, dass Stegner und er ein gutes persönliches Verhältnis hätten. Aber Stegners Äußerungen zu seinem Vorwurf der Realitätsverweigerung wollte er so nicht stehen lassen. Er meine damit nicht "drei oder fünf Prozent", also das Nato-Ziel. Er meine: "Dieser Imperialist im Kreml will nicht verhandeln, der will keinen Frieden." Putin sage selbst, dass Russland im Kampf "gegen den dekadenten Westen" stehe. Dann könne man Putin doch nicht ernsthaft als jemanden sehen, "der mit uns über Frieden und Abrüstung reden will", so Pistorius.
Es gehe auch "nicht um Aufrüstung wie in den 80er Jahren". Die Nato müsse überhaupt erstmal auf Augenhöhe mit Russland kommen, so Pistorius mit Blick auf die Verteidigungsfähigkeit im Fall eines konventionellen Angriffs. "Frieden ist unser aller Sehnsucht, aber doch nicht Frieden um jeden Preis, sondern Frieden in Freiheit." Dafür erhielt Pistorius deutlich mehr Applaus als Stegner.
Wie genau sollen Verhandlungen aussehen?
Unmittelbar nach Pistorius sprach die SPD-Bundestagsabgeordnete Nina Scheer, die das Manifest mitunterzeichnet hatte. "Ich meine, dass man immer Bereitschaft haben muss für Friedensverhandlungen, egal mit wem man es zu tun hat", betonte sie. Denn wenn man sage, "dieser Machthaber ist uns zu igitt", dann könne es für ein Land wie Deutschland schnell sehr einsam werden in der Welt. Aber auch Scheer sagte: "Wir müssen in die Verteidigungsfähigkeit investieren."
Unterm Strich blieb mitunter leicht unklar, worin genau die scharfen Unterschiede zwischen der Stegner-Mützenich-Fraktion und der SPD-Mehrheit bestehen. Es scheint vor allem ein Unbehagen der Manifest-Gruppe mit dem Thema Aufrüstung zu sein, eine Angst auch, dass ihre Vergangenheit in der Friedensbewegung der 1980er Jahre heute als falsch angesehen werden könnte.
Und in der Forderung nach mehr Diplomatie. Hier zeigte sich eine Berliner Delegierte ratlos. Putin habe gerade erst gesagt, dass die Ukraine aus seiner Sicht zu Russland gehöre. "Wie genau soll unter diesen Umständen eine Intensivierung unserer diplomatischen Anstrengungen aussehen?"
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