"Ich kann mich an keine Person mit so viel Macht und Verantwortung in der SPD erinnern", wie sie derzeit Lars Klingbeil ausübt, sagt Juso-Chef Türmer vor dem mit Spannung erwarteten Bundesparteitag. Dort will sich Klingbeil erneut zum Parteichef wählen lassen. Dafür müsse Klingbeil "Antworten" liefern, wie es mit der Partei weitergehen soll, fordert Türmer im ntv.de-Interview. Der Vorsitzende des Parteinachwuchses zeichnet im ntv.de-Interview ein düsteres Bild von der Lage seiner Partei. Es fehle an einem Gesellschaftsbild, auf das die Partei hinarbeite - genauso wie am Vertrauen der Bevölkerung. An den Autoren des umstrittenen Friedensmanifests übt Türmer deutliche Kritik.

ntv.de: Vier Monate nach der Bundestagswahl und kurz vor dem vorgezogenen Bundesparteitag stagniert die SPD im RTL/ntv-Trendbarometer bei 14 bis 15 Prozent Zustimmung. Was sagt Ihnen das?

Philipp Türmer: Dieser Wert bekräftigt mich darin, dass die SPD eine grundsätzliche programmatische Neuaufstellung braucht. Wir müssen den verlorengegangenen Wählerinnen und Wählern zeigen: Wir haben verstanden und wir verändern uns. Das geht zwar nicht von heute auf morgen, zu viel Zeit dürfen wir uns aber auch nicht lassen.

Bevor wir zur Neuaufstellung kommen: Sie haben Friedrich Merz im Februar als "affektgetriebenen Politikamateur ohne Impulskontrolle" bezeichnet. Müssen Sie sich nach Merz solidem Start als Bundeskanzler korrigieren?

Die meisten Regierungschefs haben kurz nach ihrer Wahl erstmal ein Hoch. Für eine valide Beurteilung Merz' erster Amtsmonate muss noch ein wenig mehr Zeit vergehen.

Ihr Parteivorsitzender Lars Klingbeil kommt offenbar gut mit CDU-Chef Merz zurecht, die beiden sind seit den Koalitionsverhandlungen per Du …

Bei mir bleibt eine Skepsis, gerade mit Blick auf den Umgang mit den Gerichtsurteilen zu den Zurückweisungen von Asylsuchenden. Es ist ein Skandal, dass die Bundesregierung sich an dieser Stelle rechtsbrüchig verhält und dass Friedrich Merz das Vorgehen seines Innenministers einfach so akzeptiert. Die Rechtsstaatspartei CDU droht so zu einer Rechtsbruchpartei zu verkommen.

Als Teil der Bundesregierung hat auch die SPD in dieser Frage ein Wörtchen mitzureden, zum Beispiel in Person von Bundesjustizministerin Stefanie Hubig.

Stefanie Hubig fordert zu Recht, dass die Zurückweisungen nach diesen Urteilen neu begründet werden müssen. Bis heute liegt aber keine neue Begründung des Innenministers vor. Das ist absolut inakzeptabel. Der Bundesinnenminister macht sich durch das Festhalten an der Weisung, dass Bundespolizisten weiterhin rechtswidrige Zurückweisungen vornehmen sollen, womöglich selbst strafbar. Das darf Friedrich Merz nicht einfach hinnehmen. Aber auch die Sozialdemokraten müssen Druck machen, um diese rechtswidrige Praxis schnell zu beenden.

Lars Klingbeil hat der SPD eine ehrliche, offene, schonungslose Diskussion über das Bundestagswahlergebnis und die kommende Ausrichtung versprochen. Was erwartet uns da auf dem Bundesparteitag am kommenden Wochenende?

Na, hoffentlich genau das! Die SPD darf nicht in der Analyse der Wahlniederlage verharren. Wir kennen die Gründe doch schon längst. Es sind die gleichen, wie in den letzten Jahrzehnten, denn der Sieg der Bundestagswahl 2021 war eine Ausnahme, nicht die Regel. Die SPD sucht seit Jahren nach einer Vision, die die Menschen wieder für die Sozialdemokratie begeistert, eine Vision, die für mehr steht als nur das Verwalten des Status quo. Wir müssen ausbuchstabieren, welche gesellschaftliche Veränderung wir wollen und dafür das Vertrauen der Menschen zurückgewinnen.

Eine Anfang Juni vom Parteivorstand verabschiedete Analyse macht die Probleme vor allem an der Kommunikation und der Durchschlagskraft der Parteistrukturen fest. Ist das falsch?

Kommunikationsprobleme gibt es, sie sind aber nicht der Kern des Problems. Der Kern sind die vielen berechtigten Enttäuschungen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, von Arbeitern und Arbeiterinnen, deren Lebenspläne so oft an der Wirklichkeit scheitern: überteuerte Lebensmittelpreise, eine katastrophale Mietsituation, Jobunsicherheit oder fehlende Aufstiegschancen für sich oder die eigenen Kinder aufgrund einer mangelhaften sozialen Infrastruktur. Die Menschen machen nicht das wirtschaftliche System für diese Enttäuschungen verantwortlich, sondern den Staat und die SPD, die das Land mitregiert.

Und daraus folgt?

Eine sozialdemokratische Bewegung muss diese Unzufriedenheit aufgreifen und mit einer sozialdemokratischen Vision beantworten und zeigen, wie es anders geht: Dass es eine Gesellschaft geben kann, die nicht vom Wettbewerb jeder gegen jeden geprägt ist, in der es nicht am Ende wenige Gewinner auf Kosten vieler Verlierer gibt. Und dass sie sich für eine Gesellschaft einsetzt, in der der Sozialstaat nicht als schwach und träge wahrgenommen wird, sondern als Garant für Chancengleichheit und ein selbstbestimmtes Leben für alle.

Das klingt nach Systemfrage und Umverteilung. Nicht gerade Themen, die an der Wahlurne honoriert werden …

Wir müssen über Vermögensumverteilung sprechen, weil es inakzeptabel ist, dass die Vermögensungleichheit in Deutschland inzwischen so krass ist wie zuletzt im Deutschen Kaiserreich. Vor allen Dingen geht es aber auch um eine gerechtere Primärverteilung. Der Wohlstand muss bei den Menschen ankommen, die ihn erarbeiten. Stattdessen wächst das Vermögen derjenigen immer weiter, die nur von ihren Kapitalerträgen leben.

SPD-Chef Klingbeil will als Bundesfinanzminister in einem ersten Schritt die Unternehmen steuerlich entlasten, nicht die Arbeitnehmer.

Auch Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer profitieren von Investitionen in Unternehmen. Deshalb habe ich nicht per se kein Problem mit sinkenden Unternehmenssteuern zum Investitionsanreiz. Zugleich müssen aber die Steuern auf riesige Erbschaften und Kapitalerträge steigen. Dieser wichtige zweite Schritt bleibt zu meinem Unverständnis aus. Ländern und Kommunen brechen durch die geplanten Entlastungen um die 45 Milliarden Euro Steuereinnahmen weg. Eine faire Besteuerung von Vermögen und Erbschaften würde direkt bei den Ländern ankommen.

Angenommen, die SPD macht sich Ihre Forderungen zu eigen: Droht sie dann nicht wieder als Partei links der eigenen Regierung dazustehen? Als Partei, die nach einer Wahl die eigenen Ziele nicht umsetzt?

Parteien brauchen ein klares Profil und selbstverständlich steht die SPD in einer CDU-geführten Koalition links von der Regierung. Als linke, progressive Partei brauchen wir ein Zukunftsbild, das über die kommenden vier Jahre hinausweist. Aber: Würde ich zehn SPD-Mitglieder - auch aus der Führungsebene - fragen, wie das Land nach 20 Jahren SPD-Alleinregierung aussähe, bekäme ich aktuell 12 unterschiedliche Antworten. Die SPD muss sich dringend wieder auf eine gemeinsame und konkrete Vision verständigen.

Bei der Bundestagswahl hat eine einigermaßen deutliche Mehrheit konservativ oder rechts gewählt. Die Nachfrage nach linken Visionen in einer sehr, sehr unsicher erscheinenden Welt ist offenbar gering.

Der Wunsch nach sozialer Gerechtigkeit, nach sozialem Frieden und gesellschaftlichem Zusammenhalt ist laut Umfragen ungebrochen hoch. Die SPD muss aufzeigen, wie sie diese Ziele kurz-, mittel- und langfristig erreichen will. Die SPD hat einen Existenzgrund, der weit darüber hinausgeht, die Bundesregierung zu stabilisieren.

In dieser neuen Regierung versucht es die SPD mit einer im Vergleich zur Ampel fast komplett neuen Ministerriege. Der richtige Ansatz?

Wir haben in den letzten Jahrzehnten mit den unterschiedlichsten Personen Wahlen verloren. Die Wahlniederlage allein an den Verantwortlichen der Ampeljahre festzumachen, wäre falsch. Die zwei Grundprobleme der SPD sind die dünne inhaltliche Vision und ein massives Glaubwürdigkeitsproblem. Neue Personen müssen das besser machen.

Lars Klingbeil bewirbt sich am Freitag um die Wiederwahl zum Parteivorsitzenden. Können Sie sich an einen anderen Sozialdemokraten erinnern, der in der SPD eine derart dominante Position eingenommen hat wie der Parteichef, Vizekanzler, Finanzminister und Kurzzeit-Fraktionsvorsitzende?

Nein, ich kann mich an keine Person mit so viel Macht und Verantwortung in der SPD erinnern. Lars Klingbeil fordert einen Vertrauensvorschuss von der Partei ein, den er auf dem Parteitag begründen müssen wird. Er muss seine Perspektive auf eine mögliche SPD-Vision liefern und Antworten haben, wie sich die SPD gut für die Zukunft aufstellen kann.

Als neue Co-Parteichefin bewirbt sich Arbeitsministerin Bärbel Bas, die zuletzt verschärfte Bürgergeld-Sanktionen angekündigt hat. Nicht sehr SPD-typisch, oder?

Den Menschen wieder ein positives Bild vom Sozialstaat zu vermitteln, wird mit Kürzungs- und Sanktionsrhetorik nicht gelingen. Das ist aber eine Kernaufgabe der Sozialdemokratie. Der Sozialstaat gibt den Menschen mehr Freiheit, nicht weniger. Ein gutes System der Grundsicherung schützt Arbeitnehmende auch davor, jedem noch so unangenehmen Arbeitgeber schutzlos ausgeliefert zu sein. Ich setze darauf, dass Bärbel diese Antworten noch liefern wird.

Viele Menschen haben offenbar den Eindruck, dass es Leuten, die nicht arbeiten, zu leicht gemacht werde.

Dieser Eindruck ist ein vor allem von AfD, CDU und CSU befeuertes Bild. Es stimmt aber einfach nicht, dass es denjenigen, die arbeiten, schlechter geht als Bürgergeldbeziehern. Richtig ist, diejenigen zu stärken, die arbeiten. Deshalb muss auch der Mindestlohn auf 15 Euro steigen.

Vor dem Bundesparteitag gibt es reichlich Wirbel um das sogenannte Manifest zur Friedens- und Sicherheitspolitik. Sie haben die darin enthaltene Kritik am Aufrüstungskurs der Bundesregierung verteidigt, gehören aber nicht zu den Unterzeichnern.

Meine Bewertung des Manifests fällt ambivalent aus, in wesentlichen Punkten aber sehr kritisch. Diese Nato-Prozentdebatten - 3,5 oder 5 Prozent des BIP für Verteidigung auszugeben - sind für mich keine Strategie. Es muss doch um notwendige Fähigkeiten gehen und danach erst schaut man, was das kostet. Die Nato-Vorgaben zu kritisieren, ist daher legitim. Genauso wie dafür einzutreten, dass es langfristig eine vernünftige Friedensordnung in Europa gibt und man hoffentlich irgendwann auch wieder die Möglichkeit hat, über Abrüstung zu reden.

Aber?

Die Autoren haben offenbar nicht verstanden, dass wir im Moment keinen Kalten Krieg in Europa haben, sondern einen heißen Krieg in der Ukraine. Für Krieg und Frieden in Europa sind im Moment nicht langfristige Fragen entscheidend, sondern kurzfristige: Wie stellen wir die europäische Solidarität und Geschlossenheit sicher? Wie unterstützen wir die Ukraine und erhöhen den Druck, damit Russlands Blockade diplomatischer Lösungen endet? An dieser Stelle hat das Manifest keine Antworten, sondern lediglich Friedensrhetorik, die konkret nichts zur tatsächlichen Herstellung von Frieden und Sicherheit beiträgt. Zudem machen sich die Autoren zu stark von russischer Seite geprägte Sichtweisen zu eigen, die unzutreffend sind und eher dabei schaden, europäischen Einigkeit herzustellen.

Versteckt sich in dem Manifest nicht auch ein Angriff auf Parteichef Klingbeil und dessen außenpolitischem Kurs? Soll die Partei das Manifest trotzdem auf dem Parteitag diskutieren?

Ob das gegen Lars Klingbeil gerichtet ist, müssten Sie in erster Linie die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner fragen. Mir scheint diese These aber nicht ganz fernzuliegen. Gleichwohl sind Parteitage der richtige Ort, um inhaltlichen Debatten zu führen. Es sollte uns gelingen, solche Fragen nicht notwendigerweise immer mit Personaldebatten zu verknüpfen.


Mit Philipp Türmer sprach Sebastian Huld

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