Rund 2400 Afghaninnen und Afghanen sitzen in Pakistan fest - trotz Aufnahmezusagen aus Deutschland. Diese wurden im Rahmen des Bundesaufnahmeprogramms erteilt, ein Projekt der vorherigen Bundesregierung, um nach der Machtübernahme der Taliban besonders bedrohte Menschen noch vor Ort auszuwählen, zu überprüfen und nach Deutschland zu bringen. Doch die neue Bundesregierung hat alle Aufnahmeprogramme gestoppt. Stattdessen droht den Betroffenen nun die Abschiebung zurück nach Afghanistan.
Tilmann Röder, Jurist und Leiter der NGO Just Peace, hat in leitender Funktion am Bundesaufnahmeprogramm mitgewirkt. Er ist Teil einer Gruppe, die nun im Namen einiger gestrandeter Afghaninnen und Afghanen vor Gericht zieht. Um wen es dabei genau geht und warum er das Verhalten der Bundesregierung für politisch motiviert hält, sagt Röder im Interview mit ntv.de.
ntv.de: Vor dem Berliner Verwaltungsgericht rollt eine Klagewelle an: In 25 Verfahren soll die Einreise von Afghaninnen und Afghanen erwirkt werden, die sich derzeit in Pakistan befinden. Worum geht es in den Klagen genau?
Tilmann Röder: Die Klagen zielen im Wesentlichen auf die Ausstellung von Visa für schutzbedürftige Menschen ab, deren Ausreise nach Deutschland eigentlich nichts mehr im Wege stehen sollte. Denn sie haben alle Verfahrensschritte des Bundesaufnahmeprogramms durchlaufen. Die erste Klägerin, deren Klage der Rechtsanwalt Matthias Lehnert vor vier Wochen eingereicht hat, ist eine Wissenschaftlerin und Schriftstellerin aus Afghanistan. Sie hat vor der Machtübernahme der Taliban in bedeutenden Staatsämtern gedient, sich an prominenter Stelle für Demokratie eingesetzt und sich aus Forschungszwecken bereits früher in Deutschland aufgehalten. Als politisch aktive Frau ist sie zudem ganz besonders im Visier der Taliban. Das ist ein Fall, wo wir sagen: Hier muss die Bundesregierung ein Visum ausstellen. Und wir setzen stark darauf, dass nun die Gerichte sagen werden: Die Bundesregierung muss umsetzen, was sie versprochen hat.
Das Bundesaufnahmeprogramm war eine Reaktion der damaligen Ampel-Regierung auf die Machtergreifung der Taliban im Jahr 2021. Durch das Verfahren sollte gewissermaßen eine legale Migration für besonders gefährdete Menschen ermöglicht werden - ohne riskante Flucht und zentral gesteuert. Inwiefern waren Sie in das Verfahren involviert?
Ich war im Bundesaufnahmeprogramm Leiter der Fallbearbeitung in der sogenannten Koordinierungsstelle der Zivilgesellschaft. In diesem Programm konnten unterschiedliche Organisationen und Institutionen, die teils schon seit vielen Jahren einen Bezug zu Afghanistan haben, mögliche Aufnahme-Kandidaten vorschlagen und überprüfen lassen. Unsere Stelle war zuständig für eine Erstauswahl besonders gefährdeter Afghaninnen und Afghanen, die dann an die deutschen Behörden zur weiteren Prüfung weitergegeben wurde.
Um welche Menschen ging es da genau?
Die Zielgruppe des Bundesaufnahmeprogramms waren Menschen aus der Zivilgesellschaft, die sich in verschiedener Form zur Stärkung von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Freiheitsrechten und Menschenrechten in Afghanistan betätigt haben, sowie besonders vulnerable Menschen. Das sind insbesondere Frauen und LGBTQIA-Personen. Von den rund 2400 Afghaninnen und Afghanen, die in Pakistan festhängen, kommen rund die Hälfte aus dem Bundesaufnahmeprogramm. Die anderen stammen aus dem Ortskräfte-Verfahren, der sogenannten Menschenrechtsliste oder dem Überbrückungsprogamm. Der Unterschied ist: Die Menschen aus dem Bundesaufnahmeprogramm sind rechtlich deutlich höher gegen eine Aufhebung ihrer Aufenthaltszusage geschützt. Das geht nur in Einzelfällen.
Trotzdem will die Bundesregierung jeden einzelnen Fall nochmal überprüfen - aus Sicherheitsgründen.
Das ist natürlich möglich, aber wenig aussichtsreich. Denn gerade beim Bundesaufnahmeprogramm wurden die Fälle an mindestens sieben Stationen geprüft. Zuerst haben die NGOs und Institutionen, von denen die Vorschläge kamen, diese Fälle ausgewählt und vorbereitet. Dann kam die Koordinierungsstelle, dann die zuständigen Ressorts der Bundesregierung, die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit, das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, schließlich die Bundespolizei und die Sicherheitsbehörden. Alle diese Prüfungen sind also schon erfolgt. Und wenn die Bundesregierung sagt, sie will das nochmal aufmachen, dann wirkt es eher so, als suche sie irgendwelche Vorwände, um diesen Personen doch noch die Aufnahmezusage zu entziehen.
Sie sehen dahinter also ein politisches Manöver?
Für mich ist klar: Hier soll ein migrationspolitisches Exempel statuiert werden. Aber dazu ist das die vollkommen falsche Gruppe. Denn diese Menschen sind genau diejenigen, die unsere Werte teilen: Ideale von Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, Freiheit und Menschenrechten. Es sind die Menschen, mit denen Deutschland unbedingt solidarisch sein sollte. Und zweitens haben wir uns rechtlich gebunden. Nicht als Frau Baerbock oder Frau Faeser, sondern als Staat. Das rückgängig zu machen, wäre hochproblematisch. Zumal diese Leute aus Afghanistan ausgereist sind und dafür viel Geld aufgewendet haben. Manche haben Haus und Hof verkauft. Wenn die Bundesregierung diese Personengruppe verrät, gefährdet sie auch unseren internationalen Ruf.
Neben der Ungewissheit geht auch die pakistanische Regierung hart gegen Geflüchtete aus Afghanistan vor. Selbst Menschen mit Visum könnte bald die Abschiebung drohen. Was hören Sie von den festsitzenden Afghaninnen und Afghanen?
Der Druck, der auf diesen Menschen lastet, ist enorm. Sobald ihre pakistanischen Aufenthaltstitel nicht verlängert werden, droht ihnen die Abschiebung. Darum trauen sie sich kaum, ihre Unterkünfte zu verlassen. Die Menschen haben dort zwar ein Dach über dem Kopf und Verpflegung, die bezahlt wird. Aber sie können weder einer Erwerbstätigkeit nachgehen, noch können Kinder beschult werden. Und das zum Teil seit Jahren. Sie werden in einer menschenunwürdigen Situation gehalten. Da entsteht der Eindruck, dass versucht wird, sie zu zermürben. Nur wird das nicht gelingen. Diese Menschen gehen nicht freiwillig zurück nach Afghanistan. Dort sind sie gefährdet, dort könnte ihnen Schlimmstes widerfahren.
Vor Gericht sollen nun die Fälle von einigen wenigen Betroffenen verhandelt werden. Sind noch weitere Klagen zu erwarten?
Die 25 Klagen beziehen sich auf die Hauptpersonen. Dazu kommen Angehörige. Wir können daher davon ausgehen, dass es sich hier um insgesamt ungefähr 80 bis 100 Personen handelt. Aber da kommt auf jeden Fall noch mehr. Einige der Anwältinnen und Anwälte fange gerade erst an, ihre Fälle vorzubereiten.
Mit Tilmann Röder sprach Marc Dimpfel
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