Die beiden Jugendlichen mit den Einkaufstüten und Flip-Flops schauen sich benommen an. Sie haben die Nacht durchgemacht und sich auf die Gay-Pride-Parade am Freitag in Tel Aviv gefreut. Doch nun ist die Welt eine andere. Nach dem Großangriff Israels auf den Iran ist der Luftraum über Israel gesperrt, der Flughafen steht still, Schulen und Büros sind geschlossen, Straßenbahn und U-Bahn fahren nicht mehr. Das Land ist im Ausnahmezustand.
So erwacht Tel Aviv an diesem Morgen – verwirrt und voller Widersprüche – nach einer ruhelosen Nacht. Das erste Mal drängten sich die Menschen gegen halb drei in den Luftschutzräumen. Danach gingen sie raus auf die Straßen, um frische Luft zu schnappen. Und um die zwar fernen, doch zugleich nahen und brutalen Ereignisse zu verarbeiten, die sie nervös auf ihren Smartphones verfolgten.
Die Ängstlichen rauchten in Hausschuhen auf ihren Balkonen, wo in dieser Nacht selbst im Dunkeln eine stickige Hitze herrschte. Bis es wieder hinunter in die Schutzräume ging. Es dämmerte schon fast, als die israelische Luftwaffe im Iran zuschlug. Und ein Szenario anstieß, deren konkrete Folgen derzeit niemand genau absehen kann.
Nach Angaben des israelischen Militärs wurden bei der Operation mit dem Namen „Rising Lion“ mehr als 100 militärische und nukleare Ziele im Iran angegriffen. An dem Einsatz seien 200 Kampfjets beteiligt gewesen. Explosionen gab es demnach rund um die Hauptstadt Teheran, aber auch an anderen Orten des Landes. In der ersten Angriffswelle wurde laut Angaben der Regierung fast die gesamte Führung der Revolutionsgarden-Luftwaffe getötet.
„Die Welt wird sagen, wir sind die Bösen“
In Tel Aviv, das einst als „New York des Nahen Ostens“ galt und heute hart und kalt erscheint, sind derweil die Straßen vom typischen Chaos des morgendlichen Berufsverkehrs befreit, aber nicht völlig verlassen. Die Menschen drängen sich in den Supermärkten, sie wissen, dass es ein langer Tag wird.
Iranische Vergeltungsschläge sind eingepreist – und erfolgten nur wenige Stunden nach Israels Angriff, als Teheran mehr als 100 Drohnen in Richtung Israel schickt. Beim Bezahlen von Wasser und ein paar Pflaumen kalkuliert der Kassierer nicht nur die Kosten – sondern auch die kommenden Stunden: „Die (iranischen, d. Red.) Drohnen sind über Jordanien und werden in etwa dreißig Minuten eintreffen“, warnt er ausländische Besucher.
Tel Aviv ist angesichts der Ereignisse gespalten – wie ganz Israel. „Was hätten wir tun sollen? Wir hatten keine andere Wahl. Die Iraner waren dabei, die Bombe zu bauen, und wir wissen, dass sie sie gegen uns einsetzen hätten“, sagt Lavi, ein 26-jähriger Reservist, während er gleichzeitig versucht, seine Freundin über die Freisprechanlage seines Handys zu beruhigen. „Die Welt wird sagen, wir sind die Bösen, aber nur wir können uns verteidigen, niemand anderes wird das für uns tun.“
Am anderen Ende der Stimmungsskala ist die Israelin Tala zu verorten, der ganz andere Gedanken durch den Kopf gehen. Die Mittfünfzigerin betreibt ein Bed and Breakfast im Zentrum von Tel Aviv. „Was soll ich sagen? Ganz überraschend kam das nicht. Die Regierung spricht seit Jahren davon. Gebrauchen können wir das nicht. Wir brauchten keinen weiteren Krieg. Schauen Sie sich doch um: Wir werden zu Robotern.“ Was sie damit meint? „Die Menschen laufen mit starrem Blick, schnellen Schritts, einfach immer weiter. Ohne zu zögern.“
Tala hat die Worte von Regierungschef Benjamin Netanjahu gehört, wonach der Militäreinsatz „so viele Tage wie nötig dauern“ werden. „Ich höre Netanjahu gar nicht mehr richtig zu. Ich glaube ihm kein Wort. Was will er überhaupt? Keine Ahnung. Aber ich weiß, dass sie Israel zerstören werden“, sagt sie.
Während des Gesprächs wird im Fernsehen gemeldet, dass Jordanien begonnen hat, iranische Drohnen abzufangen, die auf Tel Aviv und andere israelische Städte zusteuern. Die israelische Regierung hatte mit einem unmittelbaren, iranischen Gegenangriff gerechnet. Mittlerweile ist bekannt, dass ein Großteil der Drohnen aus dem Iran abgefangen werden konnte.
Tala verabschiedet sich: „Vielleicht treffe ich ja noch ein paar Freunde – zu Hause.“
Dieser Text erschien zuerst bei „La Repubblica“, wie WELT Mitglied der Leading European Newspaper Alliance (Lena). Übersetzt aus dem Italienischen, aktualisiert und redaktionell bearbeitet von Diana Pieper.
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke