Ein Jahr nach dem genozidalen Massaker der Hamas in Israel wurde Johann Wadephul deutlich. Der damalige Vize-Chef der Unions-Bundestagsfraktion sagte am 7. Oktober 2024: „Deutschland muss wissen, wo es steht. Deutschland muss im Zweifel immer an der Seite Israels stehen.“ Noch im Januar dieses Jahres, wenige Wochen vor der Bundestagswahl, war ein Gastbeitrag des CDU-Politikers bei „Table Media“ mit der Zeile „Deutschland darf Israel niemals Waffen zur Verteidigung verwehren“ überschrieben.
Nun ist Wadephul bekanntlich Außenminister. Und hört sich auf einmal ganz anders an. Die Zitate stammen bereits aus der vorvergangenen Woche. Mich bewegen seine Stellungnahmen weiterhin, ich möchte sie daher gerne nochmal aufgreifen. Es sind Sätze, die nicht zu dem deutsch-israelischen Verhältnis passen, das in den vergangenen Jahrzehnten mühsam erarbeitet wurde. Sätze, die bleiben werden.
Wadephul sagte, die Bundesregierung werde sich von der israelischen Regierung „nicht unter Druck setzen und in eine Position bringen“ lassen, „dass wir zu einer Zwangssolidarität gezwungen werden“. Kurz darauf kündigte Wadephul auch noch an, bestimmte Waffenlieferungen könnten gestoppt werden. Dies hat er beim Besuch des israelischen Außenministers Gideon Sa‘ar relativiert. Die Behauptung der „Zwangssolidarität“ befremdet mich noch immer. Deutschland erscheint hier plötzlich als Opfer der israelischen Regierung. Es klingt fast nach einem Verschwörungsmythos – als wolle Israel Deutschland seiner politischen Eigenständigkeit berauben.
Wadephul hat den Holocaust in seinem Statement nicht erwähnt. Die Verantwortung Deutschlands für den Staat Israel, den Staat der Holocaust-Überlebenden und ihrer Nachkommen, besteht aber nun mal aufgrund der Judenvernichtung durch die Deutschen. (Auch wenn man diese dafür gar nicht bräuchte. Wenn der einzige jüdische Staat – eine liberale Demokratie, die einen Schutzraum für weltweit bedrohte Juden darstellt und weitgehend von Feinden umgeben ist – von islamistischen Terroristen überfallen wird, die diesen Staat auslöschen wollen, sollte klar sein, wen man unterstützt.) „Zwangssolidarität“ klingt nach einem Korsett, nicht nach einer eigenen Überzeugung. Der Begriff lässt die historische Verantwortung als lästige Pflicht erscheinen und stellt sie leichtfertig infrage.
„Vergangenheitsbewältigung“ als Überlegenheitspose
Dabei hat sich Deutschland die zuerst von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) proklamierte „Staatsräson“ selbst ausgesucht. Und zwar nachdem das Land die nationalsozialistische Vergangenheit zunächst lange verdrängt, eine gesellschaftliche und juristische Aufarbeitung weitestgehend verweigert und die Schuld im Sinne einer Selbstentlastung auf eine kleine Elite projiziert hatte, während die Opfer des deutschen Vernichtungswahns im öffentlichen Diskurs kaum eine Rolle spielten.
Seitdem sich das geändert hat, tragen viele Deutsche die angeblichen Lehren aus der Geschichte geradezu vor sich her, um sich als „wieder gut geworden“ zu präsentieren, wie der Publizist Eike Geisel einmal treffend polemisierte. Die vermeintliche Vergangenheitsbewältigung wird immer wieder Pose der vermeintlich moralischen Überlegenheit genutzt.
Unvergessen ist etwa ein „Bürgerfest“ zum fünften Jahrestag der Einweihung des Holocaust-Mahnmals in Berlin im Jahr 2010. „In anderen Ländern beneiden manche die Deutschen um dieses Denkmal“, sagte damals der Historiker Eberhard Jäckel, einer der Initiatoren des Gedenkorts. Den „Sinn des Denkmals“ charakterisierte er wie folgt: „Wir können wieder aufrecht gehen, weil wir aufrichtig bewahren.“
Verbreitet ist auch die absurde Ansicht, gerade aufgrund der „Wiedergutwerdung“ Israel in die Schranken weisen zu können. Die Juden müssten es ja eigentlich besser wissen, klingt da durch. Man meint, die Vergangenheit aufgearbeitet und sich damit eine moralische Sonderstellung erarbeitet zu haben. Erinnert sei etwa an Außenminister Heiko Maas (SPD), der betonte, „wegen Auschwitz in die Politik gegangen“ zu sein und dann verantwortlich dafür war, dass Deutschland bei den Vereinten Nationen mehrfach antiisraelischen Resolutionen zustimmte.
Die Journalistin Esther Schapira fasste diese Unlogik kürzlich in der „Jüdischen Allgemeinen“ treffend zusammen: „Gerade, weil wir Deutsche gestern so viele Millionen Menschen ermordet haben, sind wir heute verpflichtet, den Überlebenden unserer Gräuel zu erklären, wie sie sich gegen die Mörder von heute zu verteidigen haben, schließlich kennt sich keiner mit Kriegsverbrechen besser aus als wir.“
Leider klingt auch der von Wadephul in die Diskussion gebrachte Begriff der „Zwangssolidarität“ so, als sei die Solidarität mit Israel beziehungsweise eine besondere Schutzverantwortung gegenüber dem jüdischen Staat unrechtmäßig eingefordert oder überzogen und jedenfalls nicht die richtige Konsequenz aus den Verbrechen der eigenen Vorfahren.
Eine solche grundsätzliche Solidarität verhindert selbstverständlich nicht Kritik an bestimmten Handlungen der israelischen Regierung. Wenn etwa die rechtsextremen Minister Bezalel Smotrich und Itamar Ben-Gvir dazu aufrufen, die palästinensische Zivilbevölkerung im Gazastreifen auszuhungern oder zu vertreiben, ist es absolut notwendig, diese Forderungen nach Verbrechen deutlich zu kritisieren. Die radikalen Politiker sorgen in Israel immer wieder mit rassistischen Aussagen für Empörung. Doch Ministerpräsident Benjamin Netanjahu lässt sie gewähren, um seine Macht erhalten zu können. Auch er gehört dafür kritisiert. Und natürlich ist es legitim, wenn auch die Bundesregierung Israel dazu auffordert, Zivilisten besser zu schützen, ausreichend humanitäre Hilfe zuzulassen und deren sichere Verteilung zu gewährleisten.
Als wolle man diese Last endlich abwerfen
Nun wird allerdings plötzlich an einem zentralen Element der deutsch-israelischen Beziehungen gerüttelt, an Waffenlieferungen für Israel. Etwa der ehemalige SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich forderte zuletzt, „grundsätzlich“ von diesen Lieferungen abzusehen. Auch Teile der Grünen fordern eine Einschränkung. Mützenichs Äußerungen, die ebenfalls in der vorvergangenen Woche fielen, waren übrigens noch schäbiger als die von Wadephul. In Bezug auf Deutschlands Haltung gegenüber Israel behauptete der Bundestagsabgeordnete eine „Selbstgefangenschaft“, „die wir natürlich zu Recht vor dem Hintergrund der historischen Last des Nationalsozialismus, des Holocaust mit uns schleppen“.
Trotz der Einschränkung („zu Recht“) klingt das so, als müsse man diese Last endlich abwerfen, sich endlich von ihr befreien. Und auch dieser Begriff suggeriert, dass Solidarität mit Israel keine aktive Entscheidung, sondern Ausdruck einer Zwangslage sei. Die Deutschen werden selbst zu Leidtragenden, belastet durch die Schuld ihrer Eltern und Großeltern. Selbstmitleid im Land der Täter statt Verantwortung für das Land der Opfer.
Wadephuls Position ist selbstredend bedeutend gewichtiger. Um verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen, sollte sich der Außenminister glaubhaft von seiner Äußerung distanzieren. Für Selbstkritik ist es noch nicht zu spät.
Politikredakteur Frederik Schindler berichtet für WELT über die AfD, Islamismus, Antisemitismus und Justiz-Themen. Im September erscheint im Herder-Verlag sein Buch über den AfD-Politiker Björn Höcke. Zweiwöchentlich erscheint seine Kolumne „Gegenrede“.
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