Die Nato hat die größte militärische Ertüchtigung seit dem Kalten Krieg beschlossen. Dafür muss die Bundeswehr nicht um rund 20.000 Streitkräfte anwachsen, wie bislang geplant, sondern um das Dreifache - 60.000. Aber woher nehmen? Derzeit schrumpft die Truppe sogar. In Norwegen beschweren sich Eltern sogar, wenn ihre Kinder nicht zum Wehrdienst eingezogen werden, berichtet die finnische Militärexpertin Minna Ålander in Vilnius, auf einem Panel der Friedrich-Naumann-Stiftung. Doch für Deutschland bringt die Wehrpflicht keine schnelle Lösung, erklärt sie ntv.de und zeigt auf, welche Strategie mehr verspricht.
ntv.de: Frau Ålander, ein Aufwuchs von 60.000 Soldatinnen und Soldaten - erscheint das den zukünftigen Aufgaben Deutschlands im Verbund der Nato angemessen?
Minna Ålander: Die Bundeswehr hat gerade mit der Rekrutierung neuer Kräfte enorme Probleme. Aber eine Zahl von 60.000 erscheint mir für Deutschland machbar. Ob das reicht? Letztlich hängt das von vielen Faktoren ab, zum Beispiel von der Frage, wie schnell und wie stark die USA ihre militärische Präsenz in Europa reduzieren werden. Verteidigungsminister Pete Hegseth sagte ja gerade erst, dass Europa sich aus der militärischen Abhängigkeit von den USA lösen muss. Wahrscheinlich müssen die Planungen laufend aktualisiert werden. Aber ich halte es für gut, mit einem realistischen Ziel zu beginnen, ansonsten wirkt das demotivierend.
60.000 neue Soldaten, das gibt der Debatte um eine Wiedereinsetzung der Wehrpflicht neues Futter. Viele halten das derzeit geplante Modell - die Männer eines Jahrgangs müssen Stellung nehmen, Freiwillige lassen sich mustern, aber niemand wird in die Truppe gezwungen - für nicht ausreichend. Sie auch?
Egal, für welches Wehrpflichtmodell sich Deutschland entscheidet - das wird auf keinen Fall schnelle Hilfe bringen. Erste Ergebnisse einer wiedereingesetzten Wehrpflicht sehen Sie in frühestens fünf, realistischer aber erst in zehn oder 15 Jahren. Zudem ist die Infrastruktur derzeit nicht vorhanden. Es fehlt allein schon an Ausbildern. Zugleich dehnt sich die Bundeswehr bereits jetzt, ohne diesen Aufwuchs, sehr stark, um allen Anforderungen gerecht zu werden. Mit Blick auf die ständige Brigade für Litauen, mit Blick auch auf die 35.000 Streitkräfte, die Teil der neuen Nato-Struktur werden sollen.
Wie schaffen die Skandinavier denn den Aufwuchs?
Nehmen wir Schweden als Beispiel: 2017 wurde dort die Wehrpflicht wiedereingeführt, vor acht Jahren. Jetzt liegt die Armee dort bei etwa 8000 zusätzlichen Kräften, die sie dank der Wehrpflicht pro Jahr ausbilden kann. Ich will das nicht schlechtreden, das ist besser als nichts. Aber es ist so gut wie nichts.
Und Norwegen? Der ehemalige Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg ist Norweger. Die müssen doch ein gutes Konzept haben.
Die norwegische Armee hat zu viele Bewerber, in der großen Zahl können sie die gar nicht unterbringen. Bei der norwegischen Armee beschweren sich Eltern, deren Kinder keinen Dienst leisten können, weil keine Plätze für sie frei sind.
So stellt man sich Norwegen vor.
Die Zahl der Ausgebildeten ist aber ganz ähnlich niedrig wie in Schweden. Die Norweger haben im Moment 4000 bis 5000 ausgebildete Wehrpflichtige jährlich, also weniger als Schweden, weil auch ihnen die Kapazitäten fehlen. Die Infrastruktur, die für Ausbildung nötig ist, für die praktische Ausgestaltung der Wehrpflicht, die wächst leider sehr langsam. Man benötigt erstmal einen gewissen Zuwachs an Personal, dann kann man in größerem Stil neue Streitkräfte dazuholen. Das ist das Problem, wenn ein Land bei null anfängt. Schauen wir nach Finnland zum Vergleich: Dort werden jedes Jahr 23.000 Wehrpflichtige ausgebildet. Aber in Finnland war die Wehrpflicht auch nie unterbrochen. Darum mache ich mir etwas Sorgen, dass die Wehrdienstdebatte in Deutschland letztlich davon ablenkt, was eigentlich nötig wäre, um schneller zu wachsen: Junge Menschen dazu zu motivieren, sich jetzt für die Bundeswehr zu entscheiden.
Als Berufssoldat?
Genau. Dringender als die Wehrpflicht wäre es, das negative Image, das die Bundeswehr so lange gehabt hat, loszuwerden. Die Akzeptanz in der Gesellschaft zu erhöhen. Da ist schon einiges passiert, aber es muss noch viel mehr getan werden.
Dass sich deutsche Eltern beschweren, weil der Nachwuchs nicht beim Bund unterkommt, ist in der Tat schwer vorstellbar.
Auch darum mache ich mir mit Blick auf die Wehrpflichtdebatte Sorgen, wenn man eine junge Generation, die dem Militär eher skeptisch gegenübersteht, in die Armee zwingt. Das rüttelt am bestehenden Gesellschaftsvertrag, und das erscheint mir riskant. Vielleicht würde es gut gehen, aber es könnte auch der AfD und anderen noch mehr Schießpulver geben. Das zum einen. Zum anderen besteht die Gefahr, dass eine Wiedereinsetzung der Wehrpflicht sehr viele Ressourcen binden würde, um das überhaupt zu stemmen. Die würden an anderen wichtigen Stellen fehlen, und trotzdem sähe man ein Ergebnis erst in vielen Jahren. Darum bin ich skeptisch im Fall Deutschlands, man müsste solch einen Schritt sehr wohlüberlegt angehen, um nicht zu viele Ressourcen zu binden, und um ein Modell zu entwickeln, das gesellschaftlich akzeptabel ist.
Wenn es also als kurzfristige Lösung probater wäre, auf Berufssoldaten zu setzen: Wo und wie findet man die aber in dieser hohen Zahl? Eine Task Force "Personal" hat in der Bundeswehr schon an vielen Schrauben gedreht, um sie als Arbeitgeber attraktiver zu machen. Und trotzdem: Die Truppe schrumpft, anstatt zu wachsen. Was tun?
Deutschland ist tatsächlich ein Spezialfall. Es lässt sich nur schwer die Strategie eines anderen Landes hierher exportieren, weil die historischen Erfahrungen zumeist ganz anders sind. Nehmen wir mal Finnland: Die finnischen Verteidigungskräfte und die Wehrpflicht genießen sehr hohe Zustimmung in der Gesellschaft, denn unsere historische Erfahrung ist ein erfolgreicher Verteidigungskampf. Deutschland hat keine historische Erfahrung mit einem erfolgreichen Verteidigungskampf. Deshalb denke ich, dass die Idee der Zivilverteidigung ein guter Weg sein könnte.
Also nicht ein Aspekt aus der Vergangenheit, sondern eine neue Bedrohungslage aus der Jetztzeit als Element, das alle miteinander verbindet und Verteidigung in der Gesellschaft verankert?
So könnte man soft anfangen, die Leute dafür sensibilisieren, dass man auch Pflichten hat, dass alle etwas beitragen sollten für die gemeinsame Sicherheit. Das würde das Image der Bundeswehr verbessern. Und letztlich geht es dabei nicht nur um Deutschland selbst. Auch die europäischen Partner verlassen sich auf euch. Auch da besteht eine Verantwortung. Man muss sich ja einfach nur Europa auf der Landkarte anschauen: Deutschland liegt wortwörtlich in der Mitte, alle militärischen Bewegungen - nach Norden, Süden, Osten, Westen, müssten durch Deutschland gehen. Aber lässt die föderale Struktur das überhaupt zu? Daran wäre zu arbeiten. Zudem müsste die Gesellschaft sicherstellen, dass ziviles Leben auch während des Krieges weitergehen kann.
So wie es in der Ukraine weitergeht?
Genau. Stellen wir uns vor, Russland würde europäische Großstädte mit Drohnen und Raketen angreifen, dann bräuchte Deutschland natürlich eine sehr stabile Luftverteidigung, müsste zugleich aber auch in der Lage sein, Fliehende aus Frontstaaten aufzunehmen, Verwundete zu versorgen - aus den Baltenstaaten, aus Polen. Das Gesundheitswesen, die Krankenhäuser bräuchten ausreichend Kapazitäten. Genau darum geht es in der Zivilverteidigung, solche Kapazitäten aufzubauen, Energieversorgung zu sichern, die wird ja auf jeden Fall attackiert im Krieg. Zahlungssysteme müssen weiter funktionieren. Wasserversorgung, Lebensmittel, das hat verschiedenste Aspekte.
Aber können in diesen Fragen Zivilisten, Menschen ohne Fachkenntnisse, so viel ausrichten, sich so einbringen?
In Norwegen und Schweden und auch in den baltischen Staaten gibt es die Idee der sogenannten Home Guards, also Heimatschutz. Da geht es ganz konkret um lokale Aufgaben der Verteidigung. Wie stellen wir sicher, dass im Krieg das zivile Leben in unserem Dorf weitergeht? Dazu müssen die Menschen auch die Zusammenhänge erfassen - was wirkt wie auf wen? Solch ein Verständnis ist notwendig, damit man nicht überall verletzbar wird. Es muss gar nicht darum gehen, sich woanders an einem Krieg zu beteiligen. Die Bedrohungslage muss den Leuten in ihrer Heimat bewusst werden.
Mit Minna Ålander sprach Frauke Niemeyer
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