Es gibt Geschichten, die erzählt erst einer, dann der nächste und wieder der nächste. Am Ende glauben die, um die es geht und die es vielleicht sogar besser wissen müssten, diese Geschichte dann selbst. Die SPD zum Beispiel. Die hat bei der Bundestagswahl im Februar ein Wahlergebnis erzielt, das gemessen an allen Umfragen der vergangenen Jahre ziemlich exakt im Mittelfeld des Erwartbaren gelegen hat. 16,4 Prozent. Ganz ordentlich also für die Sozialdemokratie des 21. Jahrhunderts – von der durch die Patzer der Konkurrenz zustande gekommenen Sonderkonjunktur der Bundestagswahl 2021 einmal ausgenommen.

Dennoch haben viele kluge und weniger kluge Politik-Experten, mit oder ohne rotes Parteibuch, der SPD in den vergangenen Wochen und Monaten immer wieder vorgehalten, dass jene 16,4 Prozent vom 23. Februar nicht der Normalfall, sondern ein „Desaster“ seien. Und dass die Parteispitze daraus nun bitte auch die entsprechenden Schlussfolgerungen zu ziehen habe. Inhaltlich wie persönlich. Alle raus, alles neu. Saskia Esken, die Co-Parteichefin, hat ihren Rückzug inzwischen angekündigt. Es gibt einen neuen Fraktionschef, einen designierten neuen Generalsekretär, eine ganz Reihe von neuen Ministern. Ein neues Grundsatzprogramm soll folgen.

Nur Lars Klingbeil, der andere Co-Parteichef, ist noch da. Er hatte seine Ohren nach der Bundestagswahl erst einmal mit Erfolg auf Durchzug gestellt. Er hat die anderen gehen lassen, zum Teil auch zum Gehen gedrängt und ist selbst sitzen geblieben. Ergebnis: Klingbeil ist jetzt Parteichef, Finanzminister, Vizekanzler – à la bonheur, wie Martin Schulz, einer der Vorgänger an der SPD-Spitze, es ausdrücken würde.

Klingbeil hat erst einmal alles richtig gemacht, wie sich auch an diesem Dienstag bei der „64. Seeheimer Spargelfahrt“ zeigt, einer Traditionsveranstaltung der deutschen Sozialdemokratie, zu der einmal pro Jahr der konservativere Teil der sozialdemokratischen Bundestagsabgeordneten lädt.

Auf einem 67 Meter langen Flussschiff, der „Havel-Queen“, geht es mit 450 Genossen, Sympathisanten, Sponsoren, Medienleuten auf den Tegeler See. Noch bevor abgelegt wird, gibt es Spargel, Kartoffeln, Schnitzel, Weißwein oder Bier sowie drei eher kurze Reden. Hauptredner war in den vergangenen drei Jahren Olaf Scholz, der damalige Bundeskanzler. Diesmal ist es, fast schon wie selbstverständlich, Lars Klingbeil. Auch er beginnt seine Rede mit dem Verweis auf ein Wahlergebnis, „das uns noch in den Knochen sitzt“. Dann erwähnt er „die schwierigen Koalitionsverhandlungen“ und „die drei Grundgesetzänderungen, die wir noch mal eben auf den Weg gebracht haben“. Mit der Union, die – winziger Seitenhieb auf den neuen Koalitionspartner – nach der Wahl erstaunlich schnell „in der finanzpolitischen Realität dieses Landes“ angekommen sei.

Es folgen die Dankesworte an diejenigen Sozialdemokraten, die nicht mehr in der ersten SPD-Reihe dabei und trotzdem zur Spargelfahrt angetreten sind. Svenja Schulze, die Ex-Umweltministerin, Nancy Faeser, die Ex-Innenministerin, Jörg Kukies, der Kurzzeit-Ex-Finanzminister. Und den „lieben Olaf“ natürlich, den Ex-Kanzler – der diesmal nichts sagt, aber den mit Abstand lautesten Begrüßungs-Applaus des Abends bekommen hat. „Wir haben für was anderes gekämpft am 23. Februar“, so Klingbeil zu Scholz, „das Ergebnis ist, wie es ist. Aber ich will es hier einmal sagen – wir sind alle verdammt stolz, dass du unser Bundeskanzler gewesen bist.“ Noch einmal langer Applaus für den Ex-Regierungschef.

Der Rest der kurzen Klingbeil-Rede verendet in weiterer Routine. Wir wollen. Wir müssen. Wir kriegen das zusammen gut hin. „Wir dürfen uns mit 16,4 Prozent nicht abfinden. Wir wollen mehr.“

Es gibt etwas Beifall für diese Sätze, aber im Grunde sind zumindest die auf der „Havel Queen“ versammelten Genossen noch nicht so richtig bereit, Lars Klingbeil als ihren neuen Hoffnungsträger zu akzeptieren. Als denjenigen, der der angeschlagenen SPD nicht nur stolze sieben Ministerposten in der Bundesregierung herausverhandeln konnte, sondern die Partei tatsächlich wieder in Richtung der 20-Prozent-Marke und vielleicht sogar darüber hinausführen kann. Gegen den Negativ-Trend der vergangenen beiden Jahrzehnte. Wenn überhaupt, dann trauen das zumindest einige hier an Deck eher einem anderen Sozialdemokraten zu, der einfach sitzen geblieben ist. Boris Pistorius.

Der Verteidigungsminister, den die „Seeheimer“ wie auch Klingbeil zu den ihren zählen, ist an diesem Abend wegen dienstlicher Verpflichtungen nicht zur „Spargelfahrt“ angetreten. Gelobt wird er dennoch. Nicht von Klingbeil, sondern von einer Brandenburger Genossin, die auf dem Oberdeck fast schon verzückt erklärt, wie gut Pistorius beim Bundestagswahlkampf sogar im SPD-skeptischen Osten angekommen ist. Irgendwann, aber das ist absehbar noch einige Zeit hin, werden die beiden, werden Pistorius und Klingbeil miteinander klären müssen, wer die Sozialdemokraten tatsächlich über die 16,4 Prozent hinaushieven könnte. Vorerst hätte Klingbeil den weiteren Weg dahin zurückzulegen.

Pistorius kann mit Gelassenheit zuschauen

Der SPD-Chef muss – erstmals in seiner politischen Karriere – ein Ministerium in den Griff bekommen und zugleich sowohl die Koalition mit der Union als auch seine Sozialdemokraten zusammenhalten. Beim Parteitag, Ende Juni, bei dem Klingbeil sich zur Wiederwahl stellt, wird es einen ersten Hinweis darauf geben, wie schwierig genau dieser Triple-Spagat wird. Zu groß sollte der Rückstand auf das absehbar sehr gute Wahlergebnis seiner künftigen Co-Vorsitzenden, der in der Partei beliebten Ex-Bundestagspräsidentin Bärbel Bas, nicht sein. Boris Pistorius kann sich diese Abstimmung mit einer gewissen Gelassenheit anschauen.

Ein Gutes hat die Erzählung vom „desaströsen“ Wahlergebnis für die SPD, aber auch für ihren Vorsitzenden und Vizekanzler. Ihr wohnt zwangsläufig ein Hoffnungsschimmer inne. Wenn 16,4 Prozent ein „Desaster“ waren, dann muss es ja beim nächsten Mal besser werden. Dann kann es doch eigentlich nur bergauf gehen in den kommenden Jahren mit der Sozialdemokratie. Oder?

Ulrich Exner ist WELT-Korrespondent für Norddeutschland.

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