Man kann Friedrich Merz als konservativen Haudrauf beschreiben, aber ebenso als unideologisch und nachdenklich. Bei einer Buchvorstellung in Berlin bescheinigt Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Günther ihm ein "sehr, sehr festes Wertegerüst".
Als Angela Merkel acht Jahre regiert hatte, konnte sie ihren Wahlkampf mit einem einzigen Satz zusammenfassen: "Sie kennen mich." Das stimmte zwar gar nicht - Merkel war längst mehr Projektionsfläche, als dass die Wählerinnen und Wähler sie wirklich gekannt hätten. Aber die Leute hatten das Gefühl, die Bundeskanzlerin zu kennen.
Friedrich Merz ist noch keine vier Wochen im Amt, aber auch er hat Erfahrung damit, was es bedeutet, eine Projektionsfläche zu sein. In den Jahren seines politischen Exils in der Privatwirtschaft avancierte er zur Lichtgestalt der Merkel-Kritiker, der Konservativen und Wirtschaftsliberalen in der CDU. Eine Projektionsfläche war er auch für alle, die ihn für erzkonservativ und neoliberal hielten, für sie eignete er sich als Feindbild. Das war bei Merkel am Schluss ähnlich, nur anders.
Die Merz'sche Projektionsfläche hat sich allerdings stark verändert, seit er CDU-Chef ist, wie am Mittwoch bei einer Buchvorstellung in Berlin mehrfach betont wird: Der linke Flügel der CDU habe damals große Befürchtungen gehegt, der rechte Flügel große Hoffnungen, sagt der Historiker Andreas Rödder. "Das hat sich umgedreht."
"Was stark an Merz ist, das kommt aus den Neunzigern"
Rödder, selbst CDU-Mitglied mit klar konservativem Profil, sitzt auf dem Podium zusammen mit dem schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten Daniel Günther, gemeinsam stellen sie ein Buch der Journalistin Mariam Lau über Friedrich Merz vor. Dabei fällt auf: Günther, der wegen seiner liberalen Positionen von der CSU schon als "Genosse Günther" verspottet wurde, lobt Merz in großer Ausführlichkeit und, so wirkt es, absolut ernst gemeint. Rödder dagegen ist nicht so zufrieden. Früher war mehr Kulturkampf, scheint er zu denken.
Wer also ist Friedrich Merz, was macht ihn aus? Solchen Fragen ist Lau, die Merz seit Jahren als Korrespondentin der "Zeit" begleitet, nachgegangen. Bei der Podiumsdiskussion mit Rödder und Günther verweist sie auf Merz' frühe Jahre als Abgeordneter im Europaparlament. Da, in den Jahren unmittelbar nach dem Ende des Kalten Kriegs, habe Merz seinen Enthusiasmus für Europa entwickelt. "Der Triumphzug der Demokratien treibt ihn an, und das ist sehr kostbar", sagt Lau. Merz werde häufig als Mann von gestern verspottet. Lau hat eine andere Sicht: "Was stark an Merz ist, das kommt aus den Neunzigern."
"Das muss wehgetan haben"
Sie verschweigt auch seine schwachen Seiten nicht. In ihrem Buch beschreibt sie die berüchtigte Szene, als Merz die CDU-Abgeordnete Serap Güler im Bundestag regelrecht anschrie, weil diese ihm öffentlich beim Thema Staatsbürgerschaft widersprochen hatte. "Was glauben Sie eigentlich, wer Sie sind?", rief Merz damals. Keine zwei Jahre ist das her.
Aber es finden sich auch ganz andere Momente. Etwa jener, als Merz im Herbst 2023 bei der Vereinigung von Lesben und Schwulen in der Union (LSU) auftritt und sagt, er könne sich vorstellen, wie den Mitgliedern zumute gewesen sein musste in Zeiten mangelnder Anerkennung. "Das muss wehgetan haben, geradezu brutal geklungen haben."
Für beide Szenen gibt es ein Gegenstück. Drei Jahre vor dem LSU-Empfang war Merz von der "Bild"-Zeitung die Frage gestellt worden, ob er Vorbehalte gegen einen Homosexuellen als Bundeskanzler hätte. Merz antwortete mit einem "Nein". Auf Nachfrage wurde er ausführlicher: "Ich sage mal so, über die Frage der sexuellen Orientierung, das geht die Öffentlichkeit nichts an. Solange sich das im Rahmen der Gesetze bewegt und solange es nicht Kinder betrifft - an der Stelle ist für mich allerdings eine absolute Grenze erreicht - ist das kein Thema für die öffentliche Diskussion." Ein Politiker, der im Jahr 2020 beim Thema Homosexualität allen Ernstes an Pädophilie und andere Gesetzesverstöße denkt? Nicht wenige waren schwer entsetzt. Das muss wehgetan haben, ja.
Merz macht ein wenig ratlos
Aber auch die Konfrontation mit Serap Güler hat eine andere Perspektive. Güler ist heute Staatsministerin im Auswärtigen Amt. Zusammen mit CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann und dem heutigen Thüringer Ministerpräsidenten Mario Voigt hat sie die Kommission geleitet, die das neue Grundsatzprogramm der CDU erarbeitet hat. Anderthalb Jahre nach der Szene im Bundestag lobte Güler Merz dafür, Fraktion und Partei geeint zu haben. "Er hat auch die eingebunden, die ihm am Anfang kritisch gegenüberstanden. Dazu gehöre ich auch, das ist ja kein Geheimnis."
Wenn man Laus Buch gelesen hat, ist man sowohl klüger als auch ein wenig ratlos. Letzteres liegt nicht am Buch, es liegt an Merz. Im Buch wie in der politischen Realität gibt es mindestens zwei Merz-Versionen: einen konservativen und konfrontativen Haudrauf, sowie einen pragmatisch-unideologischen, mitunter nachdenklichen Merz.
Ist der wahre Merz vielleicht ein Flip-Flopper, wie wankelmütige Politiker in den USA genannt werden? Einer, der als Oppositionsführer ein Ultimatum an Putin fordert, als Kanzler aber nicht mehr über die Lieferung des Marschflugkörpers Taurus an die Ukraine spricht? Der im Wahlkampf die Schuldenbremse frühestens dann anfassen will, wenn im Haushalt ordentlich gespart wurde, sie aber nach der Wahl noch vor Beginn der Koalitionsverhandlungen reformiert? Der die skandalöse Rede von JD Vance in München und den Auftritt von Donald Trump mit Wolodymyr Selenskyj im Oval Office braucht, um zu verstehen, welche Gefahr aus den USA droht?
Die "Höllenwoche" des Kanzlerkandidaten
Olaf Scholz hat Merz in der Woche, als die Union im Bundestag mit der AfD stimmte, einen "Zocker" genannt - Lau nennt dies die "schwarz-blaue Höllenwoche des Kanzlerkandidaten". Hinter Scholz' Attacke stand eine durchschaubare Strategie, aber der Vorwurf hatte einen wahren Kern: Merz selbst hatte gesagt, er gehe in der Migrationspolitik "all in". Damit brach er seine eigene Zusage, im Bundestag keine Gesetze zur Abstimmung zu bringen, die nur mit Hilfe der AfD eine Mehrheit haben würden.
Mittlerweile weiß man, welche Folgen die Höllenwoche hatte: Die Union kam bei der Bundestagswahl nur auf 28,5 Prozent, weit unterhalb des angestrebten Ziels. Merz hatte sich also verzockt. Seither versucht er, sich ein anderes Image zu geben. Bislang verfängt das beim Publikum nicht: Am Dienstag zeigte das RTL/ntv-Trendbarometer: 52 Prozent der Deutschen sind mit der Arbeit des Bundeskanzlers unzufrieden. "Der designierte Kanzler zeigte sich dem Publikum einerseits entscheidungsstark, risikobereit, schnell und notfalls unideologisch", schreibt Lau über die Wochen nach der Bundestagswahl. "Er war aber auch unvorbereitet, unstet, unzuverlässig und ungeschickt."
"Merz hat ein sehr, sehr festes Wertegerüst"
Was macht dieser Bundeskanzler, wenn er am Scheideweg steht. Wenn zum Beispiel ein ostdeutscher Landesverband seiner CDU sich für eine Koalition mit der AfD entscheiden sollte, im September 2026 in Sachsen-Anhalt etwa? Dort steht die AfD nicht nur sehr weit rechts, sondern in den Umfragen gleichauf mit der CDU. Flip-floppt Merz dann oder zeigt er, dass sein politischer Kompass stabil ist?
In diesem Punkt sind alle drei einer Meinung, Lau, Rödder und Günther. Merz habe sich in den vergangenen Jahren "in zunehmender Eindeutigkeit" zu dieser Frage geäußert, sagt Rödder, und habe dabei "eine immer schärfer abgrenzende Sprache praktiziert". Gut findet der Historiker das nicht: "Diese Unvereinbarkeitsbeschlüsse machen einen immobil", findet er. Das klingt bei Rödder mitunter deutlich schärfer. "Die Brandmauer ist der eiserne Käfig, in dem das links-grüne politische Lager die Union in babylonische Gefangenschaft genommen hat", sagte er vor wenigen Wochen der "Welt".
Günther bescheinigt Merz ganz allgemein ein "sehr, sehr festes Wertegerüst, das für ihn unverrückbar ist". Nur in seiner politischen Kommunikation sei Merz noch nicht ganz in der Gegenwart angekommen, deshalb werde er mitunter missverstanden.
Power oder Maulheldentum?
Also alles wunderbar? Melanie Amann, stellvertretende Chefredakteurin beim "Spiegel", die die Runde moderiert, will zum Abschluss wissen, wo das größte Risiko für eine erfolgreiche Amtszeit liege. Rödder antwortet knapp: "Morbus Merz". Lau benutzt den Begriff in ihrem Buch und meint damit, "einem Ressentiment einfach mal Luft machen, dann bei Gegenwind zunächst rhetorisch eskalieren, um schließlich irgendwann einlenken zu müssen". Günther sieht mögliche Probleme nicht bei Merz, sondern darin, dass die Koalition in die gleichen Mechanismen verfallen könnte wie die Ampel.
Trotz der Gefahr durch den "Morbus Merz" glaubt Rödder eher, dass Merz' Amtszeit erfolgreich wird. Wie kein anderer Politiker sei Merz "in der Lage zu europäischem Leadership". Da stimmt Lau zu. Und Günther merkt an, es gebe in Deutschland wahrscheinlich "nur eine Handvoll Leute", die physisch in der Lage seien, dieses Amt auszufüllen. Ein Kanzler müsse nicht wie ein Ministerpräsident zwölf Stunden am Tag arbeiten, sondern siebzehn, achtzehn Stunden. Merz habe "diese Power".
Damit könnte man schließen. Lau hatte zuvor aber noch etwas anderes über Merz gesagt. "In sehr dunklen Momenten habe ich das Gefühl: Vielleicht ist Merz schon da, wo er hinwill, auf der Weltbühne. Und dann kommt eine Menge Maulheldentum."
Das Buch von Mariam Lau trägt den Untertitel "Auf der Suche nach der verlorenen Mitte". Nach der Lektüre und der Podiumsdiskussion fragt man sich unweigerlich, ob es Merz ist, der seine Mitte sucht.
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