Selenskyj und Merz treffen sich erstmals im Kanzleramt. Viel Zeit ist nicht, aber viel zu besprechen. Die Lehre aus den letzten Wochen: Ohne Trump läuft es nicht. Umso mehr müssen die Europäer tun. Die gute Chemie zwischen Berlin und Kiew kann viel voranbringen.
Mit dem Rücken zur Wand - an diese Position muss sich Wolodymyr Selenskyj inzwischen gewöhnt haben. Jeden Abend schickt der ukrainische Präsident seine Durchhalteparolen per Video ins Land. Während viele seiner Streitkräfte in ihren Stellungen seit mehr als drei Jahren kämpfen, am Stück. Fronturlaub zur Regeneration kann kaum gewährt werden, weil die Reserven fehlen, um die Ausfallenden zu ersetzen. Zugleich drückt die russische Armee entlang der Front immer massiver gegen die ukrainische Verteidigungslinie - und rückt ein paar hundert Meter vor, jeden Tag.
Eine verlässlich vereinbarte Waffenruhe nähme für einen Moment den Druck raus, ließe die Kämpfenden im Schützengraben zu Atem kommen. Doch der Vorstoß für einen Waffenstillstand Anfang Mai - von US-Präsident Donald Trump forciert, von Selenskyj unterstützt und durch wichtige europäische Staatenlenker mit einer Androhung von Sanktionen versehen - verpuffte im Kreml. Ultimaten seien nicht die angemessene Art, wie man mit der russischen Regierung umgehe, ließ Wladimir Putin die Westmächte wissen.
Dann knickte Trump wieder ein
Fernmündlich stellte sich Trump zunächst noch hinter die Drohungen der Europäer. Sanktionen gegen russische Energieexporte und Banktransaktionen waren im Gespräch. Doch nur Tage später knickte er im Telefonat mit dem russischen Machthaber wieder ein. Und teilte den Europäern hernach seine Einschätzung mit, Putin fühle sich auf der Siegerstraße. Er wolle den Krieg nicht beenden.
Mit exakt dieser Botschaft reist Selenskyj nicht nur heute nach Berlin, sondern seit Jahren in europäische Hauptstädte, bis hin zum Weißen Haus in Washington: Putin will den Krieg nicht beenden. Könnte es sein, dass ihm die westlichen Staats- und Regierungschefs nun endlich nicht nur glauben, sondern aus der Erkenntnis auch Konsequenzen ziehen?
Das ist die Mission des Ukrainers, auch bei seinem Besuch im Kanzleramt. Es geht darum, den Blick des Kanzlers darauf zu schärfen, dass er im Kreml nicht nur einen Feind der Freiheit und Demokratie, sondern gleichsam einen Gegner Deutschlands sitzen hat. Während etwa Merz' Parteikollege, der sächsische Landeschef Michael Kretschmer, schon wieder von russischem Billig-Gas träumt.
Während an der Front die Situation prekär ist, die Ukraine kontinuierlich zurückweicht, ist in die Diplomatie Bewegung geraten. Auffällig zumindest hat sich der Kontakt zwischen Selenskyj, Emmanuel Macron aus Paris, dem Briten Keir Starmer, dem Polen Donald Tusk und Bundeskanzler Friedrich Merz jüngst intensiviert. Die Ankündigungen, als nächstes mit der Sanktionskeule zu schlagen, wurden bei jeder Gelegenheit erneuert.
Allein, es fehlen die schlagkräftigen Mittel. Der Wirkungsgrad europäischer Sanktionen wird von Experten als gering eingeschätzt. Ohne die USA an Bord hat man nicht genug Wirtschaftskraft, und Sekundärsanktionen gegen Drittstaaten wie etwa China oder Indien erlaubt sich Brüssel nicht. Wenn aber die EU 200 Schiffen der russischen Schattenflotte ein Anfahren europäischer Häfen versagt, so dümpelt dieses Verbot nur knapp oberhalb von Putins Wahrnehmungsgrenze.
Drei Tage plus X - wäre schon mal was
Wenn also Selenskyj und Merz sich heute im Kanzleramt zusammensetzen, dann muss und wird es sicherlich darum gehen, mit welcher Taktik man die größten Chancen hätte, Donald Trump mal für einen etwas längeren Zeitraum mit ins Boot zu holen. Drei Tage plus X, das wäre schon mal was. Das Verhältnis zwischen Merz und Trump scheint sich brauchbar zu entwickeln, eine Chemie wie bei Nato-Generalsekretär Mark Rutte oder Italiens Regierungschefin Giorgia Meloni ist hingegen nicht spürbar.
Hinzu kommt: Bei einem derart unberechenbaren Gegenüber wie Trump lassen sich Strategien ohnehin nur in Maßen anwenden. Eine zumindest scheint beim selbstgefälligen US-Präsidenten ansatzweise zu verfangen: Wenn Europäer zusammenstehen, dem russischen Machthaber mit Chuzpe und Drohungen begegnen, wenn sie vor Tatendrang strotzend den mächtigsten Mann der Welt um 6 Uhr morgens aus dem Bett klingeln, dann wirkt das irgendwie - sexy. Auch in Washington.
Die Mission des Kiewer Quintetts vor zwei Wochen hat gezeigt: Trump könnte womöglich zu haben sein für eine härtere Linie gegenüber Putin. Die brutalsten Luftangriffe seit Beginn des Krieges, die Russland am Wochenende gegen die Ukraine flog, quittierte der Amerikaner auf seiner Plattform Truth Social mit der Feststellung, Putin sei "absolut verrückt".
Wenn Merz und Selenskyj gemeinsam im Kanzleramt zu Mittag essen, wird es also wohl darum gehen, einen Plan zu schmieden. Eine Mischung aus eigener Stärke und Charme-Offensive gegen das Weiße Haus, dabei aber flexibel genug, um die Kapriolen, die der US-Präsident aller Erfahrung nach drehen würde, mitzunehmen.
Mit Diplomatie und wirtschaftlichem Druck allein ist es aber nicht getan. Einem, der sich auf der Gewinnerstraße wähnt, der seinen Krieg nicht beenden will, muss man auf dem Schlachtfeld beikommen. Da braucht Selenskyj von Europa dringend mehr Hilfe als seine Landsleute aktuell an der Front bekommen.
Russland baut Drohnen in rasantem Tempo
Gegen Russlands Kriegswirtschaft, unterstützt aus China und Nordkorea, kann die Ukraine kaum anproduzieren. Aber ihre westlichen Unterstützer könnten es. Mit einer gemeinsamen Wirtschaftsleistung weit jenseits der russischen ließen sich zwar keine Panzer und keine Patriots aus dem Hut zaubern. Diese zu produzieren, dauert Jahre, das ist Fakt. Aber die russische Drohnen-Überlegenheit zu brechen, das könnten die Ukraine-Partner ohne Weiteres und ohne Verzögerung angehen. Auch Deutschland.
Was die russische Rüstungsindustrie Anfang 2024 in einem Monat an Drohnen produzierte, das baut sie heute in drei Tagen zusammen, sagt Militärexperte Markus Reisner. Und lässt sie massenhaft aus dem ukrainischen Nachthimmel regnen - auf wichtige Umspannwerke für die Stromversorgung, aber auch auf Wohnviertel und Krankenhäuser. Man schöpft aus dem Vollen. Kann der Westen da ernsthaft nicht mithalten?
Helsing, Quantum Systems, Donaustahl - so heißen junge deutsche Unternehmen, die vielversprechende Drohnen für das Militär entwickeln und zum Teil bereits für oder sogar in der Ukraine Drohnen produzieren. Geräte zur Aufklärung und für den Kampfeinsatz. Sie werden aus Kiew bezahlt. Die Bundesregierung hat zwei Unternehmen mit der Herstellung von Drohnen beauftragt - für den Gebrauch in der Bundeswehr.
Könnte da nicht viel mehr gehen? Zwischen Vorspeise und Hauptgang wird Selenskyj diese Frage womöglich an Merz richten. Genauso wie die Bundesregierung vor drei Jahren beim deutschen Rüstungskonzern Diehl Defense Fliegerabwehrsysteme für die Ukraine kaufte, könnte Berlin doch jetzt auch Drohnen für Kiew bestellen. Die lassen sich weitaus schneller produzieren als schweres Gerät, und sobald es aus Einzelanfertigung in die Serie geht, drückt das auch den Preis nach unten.
Masse hilft, nicht nur im Donbass, wo die Russen schon vor der vierten ukrainischen Verteidigungslinie stehen und mit ihren Drohnen die Ukrainer bis weit hinter die Front unter Druck setzen. Dort brauchen die Truppen dringend mehr Hilfe gegen die Angreifer.
Das diplomatische Parkett bespielen, Pläne schmieden, den Amerikaner umgarnen - all das wird Thema sein zwischen dem Bundeskanzler und dem ukrainischen Präsidenten. Aber die Verantwortung der westlichen Partner für die prekäre Lage an der Front wird Selenskyj nicht aussparen. Dafür kommt er auch ins Kanzleramt wie seinerzeit ins Oval Office - nicht in Anzug und Krawatte, sondern in Militärklamotten.
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