Nach und nach zieht eine Erkenntnis in Joe Bidens letzten Amtsjahren in seiner Partei Kreise: Der US-Präsident ist einfach nur ein alter, verwirrter Mann, seines Amtes nicht mehr fähig. Bidens engstes Umfeld aber verweigert sich dieser Erkenntnis und hält Biden an der Macht. Dieses Bild zeichnet ein neues Buch.

In den letzten beiden Jahren seiner Präsidentschaft hatte Joe Biden Momente, in denen er sich nicht mehr an die Namen seiner engsten Mitarbeiter erinnern konnte, er äußerte sich unzusammenhängend, verlor immer wieder den Faden. Das behauptet ein Buch der US-Journalisten Jake Tapper und Alex Thompson. Sie berichten, Biden sei von der Öffentlichkeit abgeschirmt worden, um das Ausmaß seines Verfalls zu verbergen.

Das Buch beschreibt Szene für Szene, wie demokratische Gesetzgeber, Mitarbeiter des Weißen Hauses, Mitglieder von Bidens Kabinett und demokratische Spender schockiert waren über Bidens abnehmende geistige und körperliche Fähigkeiten. Das Buch schildert, wie sich der Präsident auf eine unheilvolle Wiederwahlkampagne einließ, von der ihn trotz all dem kaum jemand abzuhalten versuchte.

"Was die Welt bei seiner einzigen TV-Debatte 2024 gesehen hat, war keine Anomalie. Es war keine Erkältung; es war nicht jemand, der unter- oder übervorbereitet war. Es war nicht jemand, der nur ein wenig müde war", schreiben Tapper und Thompson. "Es war ein 81-jähriger Mann, dessen Kräfte seit Jahren nachgelassen hatten. Biden, seine Familie und sein Team rechtfertigten aus Eigeninteresse und Angst vor einer zweiten Trump-Amtszeit den Versuch, einen alten, oft verwirrten Mann erneut ins Oval Office zu bringen."

Das neue Buch mit dem Titel "Original Sin: President Biden's Decline, Its Cover-Up, and His Disastrous Choice to Run Again" wurde am Dienstag veröffentlicht. Es stützt sich auf mehr als 200 Interviews, die fast alle nach der Wahl 2024 geführt wurden, hauptsächlich mit Insidern aus der demokratischen Partei.

Bidens Erkrankung löst Anteilnahme aus - und Debatte

Das Alter und der Gesundheitszustand Bidens sind in den letzten Tagen verstärkt in den Fokus gerückt. Am vergangenen Sonntag teilte Bidens Büro mit, beim ehemaligen Präsidenten sei eine "aggressive Form" von Prostatakrebs diagnostiziert worden, die sich auf seine Knochen ausgebreitet hat. In der Erklärung heißt es, dass Biden und seine Familie "die Behandlungsmöglichkeiten mit seinen Ärzten prüfen".

Die Krebsdiagnose löste eine Welle der Anteilnahme aus - auch von Ex-Präsident Donald Trump, der auf Truth Social schrieb: "Melania und ich sind traurig, von der jüngsten medizinischen Diagnose von Joe Biden zu hören. Wir sprechen Jill und ihrer Familie unsere herzlichsten und besten Wünsche aus und wünschen Joe eine schnelle und erfolgreiche Genesung."

Doch die Debatte über Bidens Entscheidung, zur Wiederwahl anzutreten, geht weiter. Vizepräsident J.D. Vance sagte am Montag vor Reportern, er wünsche Biden das Beste für seine Gesundheit, ergänzte aber: "Wir uns ehrlich fragen, ob der ehemalige Präsident in der Lage war, den Job zu machen."

"In mancher Hinsicht gebe ich weniger ihm die Schuld als vielmehr seinem Umfeld", sagte Vance. "Wir können für seine Gesundheit beten - müssen aber auch erkennen: Wer nicht gesund genug ist, sollte den Job nicht machen."

Am Freitag veröffentlichte das Nachrichtenportal Axios eine Audioaufnahme von Bidens Interview mit Sonderberater Robert Hur zur Affäre um geheime Dokumente. Sie macht verständlich, warum Hur in seinem Bericht Biden als "sympathischen, wohlmeinenden, älteren Mann mit schlechtem Gedächtnis" beschrieb.

Top-Berater schlossen die Reihen

Tapper und Thompson berichten in ihrem Buch, Bidens Mitarbeiter hätten sich schon 2020 Sorgen um seine Gesundheit gemacht. Der geistige und körperliche Abbau des Präsidenten habe sich aber besonders in den zwei Jahren vor der katastrophalen Debatte mit Donald Trump im Juni 2024 beschleunigt.

Im Dezember 2022 konnte sich Biden laut den Autoren nicht einmal an die Namen seines Sicherheitsberaters Jake Sullivan und seiner Kommunikationschefin Kate Bedingfield erinnern. Im Herbst 2023 schien er Jamie Harrison, den Chef des Democratic National Committee, nicht zu erkennen - Harrison bestreitet das. Anfang 2024 habe Biden den Schauspieler George Clooney nicht erkannt - einen langjährigen Bekannten.

Einige Mitglieder von Bidens Kabinett sagten Tapper und Thompson, sie glaubten nicht, dass Biden um 2 Uhr nachts im Fall eines nationalen Notfalls einsatzbereit wäre. "Was 2023 noch als Katastrophe gegolten hätte, hätten wir 2024 mit 'Okay, das kriegen wir hin' abgetan", sagte ein Top-Berater den Autoren.

Tapper und Thompson schreiben, Biden sei von einem engen Zirkel abgeschirmt worden - dazu zählten seine Frau, sein Sohn und einige langjährige Berater. Man nannte sie "Politbüro" - eine Anspielung auf das Führungsgremium einer kommunistischen Partei.

Bidens engste Berater setzten auf Loyalität gegenüber Biden. Im Buch heißt es, diejenigen, die nicht zum inneren Kreis gehörten (Wahlkampfhelfer, Meinungsforscher und Kabinettsmitglieder) glaubten, die Berater hielten Biden negative Informationen vor. Als Biden entschied, erneut zu kandidieren, hätten weder das Weiße Haus noch das Wahlkampfteam etwas zu sagen gehabt.

"Es war eine Theologie, die an Fanatismus grenzte", schreiben Tapper und Thompson: "Im Januar 2025 vertrat Donilon [Mike Donilon, einer von Bidens Beratern] weiterhin den Standpunkt, dass Biden zwar Namen vergesse und verwechsle, aber sein Vorschlag für ein Friedensabkommen zwischen der Hamas und Israel verdammt klug war."

In einer Erklärung gegenüber CNN kritisierte ein Sprecher Bidens das Buch mit den Worten: "Wir würden gerne sehen, wo die nationale Sicherheit bedroht war oder wo er nicht in der Lage war, seinen Job zu machen." Die Faktenlage deute auf das Gegenteil hin: "Er war ein sehr effektiver Präsident."

"Er war wie ein anderer Mensch"

Tapper und Thompson fanden heraus, dass Sorgen um Bidens Gesundheit bis in den Wahlkampf 2020 zurückreichen. Damals drehte er Videos, in denen er über Zoom mit Wählern sprach. Doch das stundenlange Filmmaterial war weitgehend unbrauchbar und verblüffte einige in Bidens Team.

"Er war ein anderer Mensch. Es war unglaublich. Als würde man einem Opa zusehen, der nicht mehr Auto fahren sollte", sagte ein Demokrat laut dem Buch. "Ich dachte nicht, dass er Präsident werden kann."

Vertraute des Präsidenten berichteten laut Tapper und Thompson, Bidens Verschlechterung sei mit Momenten intensiven Stresses verbunden gewesen, insbesondere mit den rechtlichen Problemen seines Sohnes Hunter. Ein Kabinettsmitglied sagte demnach, Hunter Bidens Verurteilung im Juni 2024 habe sich angefühlt "wie ein fünfhundert Pfund schweres Gewicht auf dem Kopf des Präsidenten". Mehrere Abgeordnete sagten den Autoren, dass dieser Biden sie an kranke Eltern und Großeltern erinnerte.

In der Öffentlichkeit kamen die Fragen zu Bidens Gesundheit 2024 auf - befeuert durch den vernichtenden Bericht von Sonderermittler Hur. Dieser verzichtete auf eine Anklage wegen unsachgemäßen Umgangs mit Geheimdokumenten - unter anderem, weil unklar war, wie eine Jury Bidens Alter werten würde.

Tapper und Thompson berichten, dass Demokraten schockiert waren - sowohl bei Treffen hinter verschlossenen Türen als auch bei Spenderveranstaltungen. Senatoren sagten den Autoren, sie hätten Anfang 2024 eine spürbare Veränderung an Biden bemerkt. Sie hielten das für beunruhigend, gaben ihrem früheren Kollegen aber einen Vertrauensvorschuss.

Nach einem Treffen mit Biden fuhr ein ranghoher Beamter einen Kollegen im Weißen Haus wütend an: "Was zum Teufel macht ihr da? Ich verstehe nicht, wie dieser Kerl Wahlkampf machen kann, um wiedergewählt zu werden." Nach der Wahl sagte derselbe Beamte den Autoren: "Obwohl er so viel Gutes für dieses Land getan hat, werde ich ihm niemals verzeihen können."

Im März 2024 hielt Biden eine mitreißender Rede zur Lage der Nation - ein Auftritt, den viele Demokraten als Rechtfertigung für seine Kandidatur anführten. Einige Mitarbeiter des Weißen Hauses, die Biden sonst nicht zu Gesicht bekamen zeigten sich danach allerdings beunruhigt über dessen Zustand. Später am Abend sprach Biden vor einer Gruppe Highschool-Schüler und hielt eine weitschweifige Rede. Ein Berater soll danach gefragt haben: "Was um alles in der Welt haben wir da gerade gesehen?" Die Gedanken dieses Mitarbeiters werden im Buch so beschrieben: "Das wird nicht funktionieren. Er kann das nicht. Das ist verrückt. Verrückt. Verrückt."

Druck nach der Debatte

Tapper und Thompson berichten, nach Bidens desaströser Debatte mit Trump im Juni 2024 hätten die engsten Mitarbeiter des Präsidenten versucht, das Debakel abzuhaken, als sei nichts geschehen. "Wenn überhaupt, hat die Debatte Bidens Berater wachsamer für Anzeichen von Illoyalität gemacht", schreiben die Autoren. "Sie sahen darin nur den letzten Versuch, Biden aus dem Spiel zu nehmen."

Hinter den Kulissen drängten Demokraten Bidens engstes Umfeld, den Präsidenten bei unvorbereitenen Auftritten zu zeigen. Doch laut Tapper und Thompson "konnte Biden nicht tun, was man von ihm verlangte, um seine geistige Fitness zu beweisen".

Ein Wahlkampfberater erinnert sich im Buch an ein Gespräch nach der TV-Debatte. An Bord der Air Force One dachte der Berater demnach, während der Präsident sprach: "Was machen wir hier? Der Mann kann keinen verdammten Satz bilden", heißt es im Buch. "Würde ich so mit jemandem reden, der kein Präsident ist, hätte ich ernste Sorgen um seine Gesundheit. Und dieser Mann ist Präsident der Vereinigten Staaten."

Während immer mehr Demokraten forderten, Biden solle zurücktreten, hielt er gemeinsam mit seiner Familie zunächst dagegen. Als Jill Biden am 3. Juli Michigan besuchte, verteidigte die damalige Senatorin Debbie Stabenow den Präsidenten mit Nachdruck. Sie bat um ein kurzes Gespräch unter vier Augen mit der First Lady. Dort sagte sie ihr, frühere Senatskollegen seien in Sorge um Biden.

"Wir wissen nicht, ob das ein einmaliger Aussetzer war oder ob mehr dahintersteckt", sagte Stabenow laut Buch. "Die First Lady antwortete nicht direkt, schimpfte aber später vor Mitarbeitern des Weißen Hauses darüber."

"Leute, die dieses Buch geschrieben haben …"

Biden und seine Frau verteidigten die Amtsführung des Präsidenten Anfang des Monats in einem gemeinsamen Interview bei ABCs "The View". Sie wiesen den Vorwurf zurück, er habe im letzten Amtsjahr kognitiv abgebaut. "Die Leute, die diese Bücher geschrieben haben, waren nicht mit uns im Weißen Haus. Sie haben nicht gesehen, wie hart Joe jeden Tag gearbeitet hat", sagte Jill Biden.

Barack Obama und der damalige Mehrheitsführer im Senat, Chuck Schumer, waren laut Tapper und Thompson besorgt, dass Bidens engste Berater ihm nicht die klaren Zahlen lieferten, die nötig waren, um das Ausmaß seiner schlechten Wiederwahlchancen zu erkennen. Obama bat Schumer, mit Biden zu sprechen und ihm die Daten direkt vorzulegen.

Der Stabschef des Weißen Hauses, Jeff Zients, war überzeugt, dass Biden nach der Debatte aussteigen sollte, behielt das aber für sich. Zients versuchte, ein Treffen zu organisieren, damit der Präsident die Daten direkt von seinen Meinungsforschern erhalten würde. Doch Biden wurde just in dieser Woche positiv auf Corona getestet und musste sich isolieren. Die Meinungsforscher informierten daraufhin nur seine engsten Mitarbeiter.

Im Vorfeld von Bidens Rückzug im Juli 2024 bestand Chuck Schumer auf einem persönlichen Gespräch mit dem Präsidenten und reiste dafür nach Delaware. Laut Tapper und Thompson sagte Schumer Biden, er würde bei einer geheimen Abstimmung unter den demokratischen Senatoren über seine Kandidatur nur fünf Stimmen bekommen.

Schumer warnte Biden, er bekomme keine klaren Informationen über seine Aussichten - und sprach sein politisches Erbe an. Sollte die Partei verlieren, so Schumer, würde Biden "als eine der dunkelsten Gestalten in die amerikanische Geschichte eingehen".

"Glauben Sie, dass Kamala gewinnen kann?", fragte Biden. "Ich weiß nicht, ob sie gewinnen kann", antwortete Schumer laut Buch. "Ich weiß nur, dass Sie es nicht können."

Dieser Text erschien am 20. Mai 2025 auf cnn.com. Übersetzung: ntv.

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